Der Mann mit der Kamera
// ZEITmagazin

Er ist der wohl bekannteste Kinderfotograf der Welt. Doch schon lange hegen Menschen aus seinem Umfeld einen Verdacht. Achim Lippoth soll Kinder sexuell missbraucht haben. Er bestreitet das.

Von Daniel Müller und Lena Niethammer


Es gibt Zitate, die mit der Zeit ihre Bedeutung ändern. Nicht weil sich etwas an ihrem Inhalt ändert, die Worte an sich sind immer noch dieselben, sondern weil sich unser Blick auf den, der sie gesagt hat, verschiebt. Das folgende Zitat des Fotografen Achim Lippoth aus dem Jahr 2008 ist so eines. In einem Interview sagte er damals:

"Obwohl ich mir wünsche, dass die Kindheit eine besondere Zeit sein könnte, eine reine Zeit und frei von den Traumata der Erwachsenenwelt, ist das nicht möglich. Niemand kann Kinder vor den Schrecken und Ablenkungen der heutigen Welt schützen."

Als das Zitat im Fotografie-Magazin Eyemazing publiziert wurde, schien es echte Sorge auszudrücken, vielleicht sogar Resignation. Doch wer sich in den letzten Monaten mit Lippoth beschäftigt, kommt kaum umhin, etwas anderes hinter seinen Worten zu befürchten: Hochmut. Ein Gefühl der Unantastbarkeit.

Achim Lippoth ist der wohl bekannteste und renommierteste Kinderfotograf der Gegenwart. Seine Bilder zieren einige der wichtigsten Publikationen der Welt: New York Times, Vogue, Spiegel, Süddeutsche Zeitung Magazin und auch die ZEIT und das ZEITmagazin. Lippoth schießt Kampagnen für Dolce & Gabbana, Kinderschokolade, Zara, McDonald’s, gewinnt fünf Löwen in Cannes und gründet eines der gefeiertsten Magazine für Kindermode: Kid’s Wear.

Kaum ein Fotograf kann Kindheit so einfangen wie er. Obwohl gestellt, strahlen seine Fotografien die Unbefangenheit der Welt der Jüngsten aus. Fotos, so authentisch, dass der Betrachter sich sofort in Erinnerungen an die eigene Kindheit verliert.

Seit zehn Monaten nun sitzt Achim Lippoth in Untersuchungshaft. Über Jahrzehnte soll er Kinder nicht nur fotografiert, sondern auch missbraucht haben, sagt die Staatsanwaltschaft. Lippoth bestreitet das, aber die Vorwürfe wiegen schwer: Am 31. Mai wird der Prozess am Landgericht Köln beginnen. 17 Taten listet die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage auf, begangen zwischen 1999 und 2021: ein Fall von Kinderpornografie-Besitz, zwölf Fälle von schwerem sexuellem Missbrauch, vier von sexuellem Missbrauch. Betroffen sollen insgesamt sechs Kinder sein.

Das ZEITmagazin hat exklusiv mit Dutzenden Personen aus Lippoths Umfeld gesprochen, mit Kollegen, Angestellten, seiner Agentin, seinem Vater, mit Behörden, Eltern und mutmaßlichen Opfern. Viele von ihnen wurden nie von den ermittelnden Stellen befragt. Zwei mutmaßliche Opfer tauchen nicht in der Anklageschrift auf.

Dieser Text erzählt die Geschichte eines Mannes, der die Menschen um sich herum mit Geld und Status zu manipulieren wusste, um sich zu nehmen, was am schützenswertesten sein sollte. Er erzählt von mutmaßlichen Opfern, die nicht gehört wurden oder gerade erst ihre Stimme finden. Er erzählt von all jenen, die ihn schon früher hätten stoppen können, hätten sie nur besser hingeschaut, Eltern, Behörden, Mitarbeiter. Und von Personen, die einen Verdacht hatten und denen am Ende doch nichts anderes übrig zu bleiben schien, als ihm ohnmächtig gegenüberzustehen.

Beginnen wir mit ihnen.

OHNMACHT


Katharina Koppenwallner lernt Achim Lippoth durch ihre Arbeit als Stylistin kennen. Es ist Mitte der Neunziger, sie ist Anfang 30, er Ende 20. Lippoth hat gerade das Magazin Kid’s Wear gegründet. Er will damit ein Gegenstück zur Vogue Bambini schaffen, der italienischen Kinder-Vogue, der damals einzigen relevanten Publikation für Kindermode. Die Fotos will er machen. Koppenwallner soll Chefredakteurin werden.

Koppenwallner beschreibt Lippoth als einen, der die Dinge, die er will, auch bekommt. Rigoros sei er gewesen, aber jemand, der dadurch auch viel möglich macht. Sie mag das. Wenn sie vorschlägt, in Brasilien eine Strecke im Stile des Fotografen Mario Testino zu schießen, fliegen sie hin. Wenn Lippoth in irgendeinem Hotel einen eingedeckten Tisch für ein Shooting braucht, dann ist der kurze Zeit später da.

Auch privat kommt sie zunächst gut mit ihm aus, erzählt sie bei einem Treffen in Berlin-Mitte. Er habe immer böse Witze auf Kosten anderer gemacht. Bei vielen sei er damit angeeckt. Sie findet ihn damals lustig, nennt seine Art "unverfroren".

Erst im Laufe der Zeit fallen ihr Verhaltensweisen an ihm auf, die in der Summe einen Verdacht ergeben.

Auf Fotoshootings behandelt Lippoth Jungs im vorpubertären Alter, zwischen acht und zwölf, anders als andere Kinder. Sie sagt, er sucht ihre Nähe, tobt mit ihnen, will immer, dass sie auf seinem Schoß sitzen. Nach den Shootings lädt er sie auf eine Fahrt in seinem Porsche ein oder macht mit ihnen einen Ausflug ins Phantasialand. "Er hat sich immer so ein bisschen verhalten, als sei er einer von ihnen", sagt Koppenwallner. "Nur dass er derjenige war, der eben den Porsche hat und die Macht."

Auch auf den Fotos erkennt sie einen Unterschied. Mädchen bleiben kindlich in Lippoths Aufnahmen, Jungs inszeniert er "sexyer": mehr nackte Haut, mehr Posen, mehr Schweiß. Bilderstrecken aus der Zeit belegen das. Koppenwallner erinnert sich, wie sie einmal gemeinsam die Fotos von einem Shooting anschauen. Darauf zu sehen: Nicolas, einer von Lippoths damaligen Lieblingsjungs. Er trägt Unter- oder Badehose, lehnt sich an einen Wohnwagen und schaut lasziv in die Kamera. Für das Foto müsstest du eigentlich in den Knast kommen, will Koppenwallner Lippoth gesagt haben. Er könne da nichts für, soll der spitzbübisch geantwortet haben. Das Bild sei ja aus der Situation entstanden.

Koppenwallner sagt, im Nachhinein glaube sie, dass sie naiv gewesen sei, aber damals habe sie gedacht, Lippoth habe zwar pädophile Vorlieben, lebe diese aber nicht aus. Sie hält inne. "Das würde ich heute natürlich nicht mehr denken."

Anfang 2003 stellt sie Lippoth ihrem Bekannten Marc Schulze-Niestroy vor, damals 33. Die Kid’s Wear ist zu einem Branchenliebling avanciert, ihre Auflage bewegt sich zwar nur um die 30.000 Exemplare pro Ausgabe, aber sie gewinnt zahlreiche renommierte Preise, darunter etliche Lead Awards und ADC Awards, die Magazine mit avantgardistischem Anspruch auszeichnen. Berühmte Fotografen und Autoren reißen sich darum, für das Magazin zu arbeiten, Modemarken wollen unbedingt Anzeigen schalten. Marc Schulze-Niestroy wird Kid’s Wears neuer Geschäftsführer.

Zu der Zeit, sagt Schulze-Niestroy, habe jeder im Büro hin und wieder Witze über Lippoths Vorliebe für kleine Jungen gemacht.

Schulze-Niestroy findet auffällig, wie Lieblingsjungen, die gerade noch am häufigsten gebucht wurden, somit am meisten Geld bekamen, die Privilegien hatten und mit deren Eltern Lippoth sich angefreundet hat, plötzlich wieder von der Bildfläche verschwinden. Nehmen wir Nicolas. "Vorher hieß es Nicolas hier, Nicolas dort. Alles ganz toll und große Freundschaft. Und plötzlich war keine Rede mehr von Nicolas. Und wenn man gefragt hat: 'Was ist eigentlich mit Nicolas?', dann wurde nur gesagt: Der macht jetzt was anderes ..."

Koppenwallner und er überlegen, wie sie das deuten sollen. Vielleicht sei Lippoth Nicolas ja zu nahe gekommen, und die Eltern hätten dann nicht mehr gewollt? Noch denken sie nicht an Missbrauch, eher an eine übergriffige Berührung.

An einem Morgen Ende 2003 werden dann sowohl Schulze-Niestroy als auch Koppenwallner von Kollegen angerufen. Die Polizei sei da und nehme die Computer mit, heißt es. Gegen Lippoth liegt eine Anzeige wegen Kindesmissbrauchs vor, es ist die erste von insgesamt drei, die zu nichts führen werden. Eine Mutter, die anonym bleibt, behauptet, er habe ihren Sohn nackt fotografiert und dabei angefasst.

"Da konnte es niemand mehr abtun. Jeder wusste, dass es stimmt", sagt Schulze-Niestroy.

Er handelt als Erster. Ein paar Tage nachdem sich Lippoth vor seine Mitarbeiter stellt und gelassen erzählt, an den Vorwürfen sei nichts dran, sein Möbelhändler stecke hinter der Anzeige, der wolle ihm etwas anhängen, wirft Schulze-Niestroy hin. "Fick dich", will er noch zu Lippoth gesagt haben, bevor er kündigt.

Koppenwallner versucht es anders. Weil sie denkt, dass Täter oft selbst Opfer waren, will sie Lippoth eine Möglichkeit geben, zu reagieren. Sie erzählt, wie sie sich mit ihm in einem Restaurant verabredet habe. Ganz nebenbei, als habe sie zufällig davon gelesen, beginnt sie von einem Programm zu erzählen, das in dieser Zeit in der Charité Berlin beginnt. Ein Programm für Pädophile, die keine Täter werden wollen. Vorsichtig fragt sie, ob auch er solche Neigungen habe. "Ich wollte ihm schon zu verstehen geben, dass, wenn er diese Neigungen zugibt, ich auch hinter ihm stehen würde. Damit war natürlich klar, dass, wenn er sie nicht zugibt, ich nicht hinter ihm stehe." Sie sagt, Lippoth sei sofort erstarrt. "Nein", habe er geantwortet. Nach dem Essen sei offensichtlich gewesen, dass beide ihr Arbeitsverhältnis nicht fortsetzen wollen.

Als Koppenwallner und Schulze-Niestroy wenig später erfahren, dass das Verfahren wegen der anonymen Anzeige eingestellt wird, sind sie erst ungläubig, dann wütend und irgendwann hilflos. Ungläubig, dass die Polizei nicht wenigstens ermittelt. Wütend auf sich, weil sie so lange für Lippoth gearbeitet haben, und auf die Kollegen, weil die die Anzeige abzuhaken scheinen, als hätte es sie nie gegeben. Und hilflos, denn: Wer soll ihn nun stoppen?

"Das war für mich ein richtiger Schock", sagt Schulze-Niestroy. "Ich war felsenfest davon überzeugt, dass alle gehen, dass das das Ende für ihn ist."

In letzter Verzweiflung und gegen den Rat seines Anwalts, der befürchtet, Lippoth könne ihn wegen Rufmord verklagen, habe er der Staatsanwaltschaft Köln einen Brief geschrieben: Er sei überzeugt, dass Lippoth ein praktizierender Pädophiler sei, er wolle, dass sie seinen Brief zu den Akten nehmen, auch wenn er keine Beweise habe. Die Staatsanwaltschaft antwortet nicht. Koppenwallner wiederum sagt, sie habe Lippoths Agentin geschrieben, die aber nur geantwortet habe, solange es nicht bewiesen sei, sei es eben nicht bewiesen. Gegenüber dem ZEITmagazin bestreitet sie, diesen Brief bekommen zu haben.

Zehn Jahre nach Koppenwallner und Schulze-Niestroy beginnt Max Valentin 2013 als Praktikant bei Lippoth. Er ist 19, hat gerade das Abitur bestanden.

Valentin sitzt auf einer Bank im Londoner Stadtteil Shoreditch, während er erzählt, 29 Jahre alt, große Brille, kleine Locken, Vokuhila. Mittlerweile ist er selbst als Modefotograf erfolgreich. Weil er befürchtet, sein Name könne von nun an mit dem Wort Kindesmissbrauch in Verbindung gebracht werden, heißt er hier anders.

Valentin sagt, in der Rückbetrachtung habe es eigentlich von Beginn an Anzeichen gegeben – auch wenn er sie damals nicht als solche wahrgenommen habe. Zum Beispiel, dass seine Hauptaufgabe als Praktikant immer der Ausbau der Kinderkartei gewesen sei. Er sollte auf der Straße Kinder casten. Lippoth habe Wert darauf gelegt, dass Valentin in finanziell schwachen Einzugsgebieten suche, Köln-Kalk, Köln-Chorweiler.

Oder der Fernseher. In dem einen Jahr, in dem Valentin für Lippoth arbeitete, sei zunächst Samuel Lippoths Lieblingsjunge gewesen, der 14-jährige Sohn von Lippoths damaliger Freundin. Dann plötzlich habe es geheißen, Samuel sei nun zu alt für die Kartei. Lippoth sei mit Samuel und Valentin zu Saturn gefahren, um Samuel einen Fernseher zu kaufen.

Valentin sagt, damals habe er sich gewundert, warum Samuel so traurig geguckt habe bei Saturn. "Das war ein megageiler Fernseher! Wirklich das Topmodell. Ich war einfach verwirrt. Ich habe gedacht, dem Samuel haben wir einen Fernseher gekauft für 3000 Euro, und der wollte noch nicht mal Danke sagen."

Heute interpretiert er den Fernseher anders. "Als typisches Michael-Jackson-Geschenk, als Druckmittel, Wiedergutmachung, Bestechung. Ich wüsste nicht, wie ich das anders sehen sollte."

Dann, am 7. November 2013, bittet Lippoth ihn und einen Assistenten, Kisten aus einem angemieteten Keller in einen neuen Keller zu bringen. Es ist der Tag, an dem es zwischen Lippoth und Valentin zum Bruch kommen wird.

Valentin nimmt eine der Kisten hoch und wundert sich, warum sie so schwer ist. Er wartet, bis er für einen Moment im Keller allein ist, dann reißt er das Klebeband ab.

"Ich mache die Kiste auf, und das Erste, was ich sehe, ist das Foto eines Kindes, das mit zwei Fingern anal penetriert wird."

Er habe sofort Schweißausbrüche bekommen, Puls auf 180, Schock.

Er nimmt sich die obersten sechs, sieben Fotos und guckt sie durch, hochglänzende Abzüge, darauf zwei Mädchen, die ihre Vulva zeigen, und mehrere Fotos von Kinderpenissen. In der Kiste seien mehr Bilder gewesen, viel mehr, aber er habe nicht geschafft, mehr anzusehen, der Assistent sei zurückgekommen. Schnell klappt Valentin die Kiste wieder zu.

Alles okay? Jaja, sagt Valentin. Als der Assistent den Keller kurz verlässt, greift Valentin zu seinem Handy und beginnt zu fotografieren: den Kellerraum, die dortigen Boxen sowie fünf bis sechs Bilder von den obersten Fotos. Die Aufnahmen liegen dem ZEITmagazin vor.

Sie sind mit zwei Autos da. Die aufgerissene Kiste räumt Valentin bewusst in sein Auto. Irgendwann fahren sie los Richtung neuer Keller.

"Ich dachte damals: Was mache ich jetzt?! Ich hatte panische Angst, dass Achim sieht, dass ich das Scheißklebeband aufgerissen habe. Ich bin schweißüberströmt zu einem Postladen gefahren, habe neues Klebeband gekauft und die Box wieder so zugeklebt, wie ich sie gefunden hatte. Deswegen kam ich aber zehn Minuten zu spät."

Valentin sagt, in den zehn Minuten habe ihn Lippoth durchgehend angerufen. Wo bist du? Wo bleibst du? Wann kommst du?

"Rückblickend war es natürlich der traurigste Tag meines Lebens. Ich hätte einfach die Boxen nehmen sollen und damit zur Polizei gehen."

Als Valentin ankam, habe Lippoth schon gewartet, erzählt er. Gezielt habe der sich drei der Kisten gegriffen, die in den Autos waren. Eine davon sei die gewesen, in die Valentin reingeguckt hatte. Dann fuhr er weg.

"Da habe ich zu dem Assistenten gesagt: Da waren Fotos ... Der Achim fährt die jetzt weg, wir müssen das aufhalten! Der fährt mit den Boxen weg! Das kann doch nicht sein!", sagt Valentin. Der Assistent erzählt ihm daraufhin, Lippoth habe ihn im alten Keller angerufen und gesagt, er solle aufpassen, dass Valentin nicht in die Kartons guckt. Dem ZEITmagazin gegenüber bestätigt der Assistent Valentins Schilderung in weiten Teilen. An die Details könne er sich aber nicht mehr erinnern. "Ich habe nur meinen Job gemacht und nichts gesehen", sagt er.

Gleich am nächsten Tag geht Valentin zur Polizei, um Anzeige wegen des Besitzes von Kinderpornografie zu erstatten. Auf der Arbeit meldet er sich krank. Zurückkehren tut er nicht mehr: Kurze Zeit später verlässt er Deutschland ganz. Erst geht er für ein halbes Jahr nach New York, dann zieht er nach London. An Lippoth denkt er nicht mehr.

Bis er eines Tages, zwei, drei Jahre später, zu Besuch in Köln ist. Er wartet mit seinem Fahrrad an einer roten Ampel, als ihm auffällt, wie neben ihm ein Porsche hält und gleich wieder zurücksetzt, so als wolle der Fahrer vermeiden, neben ihm zu stehen. Valentin dreht sich um, sieht das Kennzeichen, guckt genauer, erkennt Lippoth am Steuer und Collin, neun, vielleicht zehn Jahre alt, das Lieblingskind nach Samuel, auf dem Beifahrersitz. "Ich dachte: Es kann doch nicht sein, dass Collin allein mit dem im Auto sitzt, ohne die Mutter."

Über Kontakte findet Valentin heraus, dass das Ermittlungsverfahren gegen Lippoth eingestellt wurde. In der damaligen Ermittlungsakte lässt sich nachlesen, dass die Bilder aus der Kiste von dem bekannten Fotografen Will McBride stammen, die in seinem umstrittenen, aber in Deutschland legalen sogenannten Aufklärungsbuch Zeig mal! von 1974 erschienen seien. Während der Besitz des Buches in einigen US-Bundesstaaten illegal ist, wurde es in Deutschland trotz großer Proteste nie indiziert.

Als Valentin Lippoth ein halbes Jahr später ein zweites Mal zufällig trifft und Lippoth wieder Collin dabeihat, habe er eingreifen wollen, sagt Valentin. Die Szene spielt sich im Berliner Soho House ab, einem privaten Mitgliederclub und Hotel. Valentin ist gerade dabei, das Gebäude zu verlassen, da sieht er Lippoth mit Collin reinkommen. Ihre Blicke kreuzen sich. Jetzt, denkt er. Er verabschiedet sich kurz von einem Freund, doch als er sich wieder Richtung Lippoth und Collin dreht, sind sie bereits verschwunden.

Als Valentin kurz darauf eine Spiegel TV-Reportage über das Ermittlungsverfahren gegen den SPD-Politiker Sebastian Edathy sieht, stößt er auf den Verlag Pojkart. Pojkart stand im Zusammenhang mit jener Firma, bei der Edathy Knabenfotos bestellt hatte. Valentin beginnt, Pojkart zu googeln. Plötzlich ein Treffer. Auf eBay findet er ein Fotobuch aus dem Verlag, in dem zum Teil Bilder von Jungs sind, die auf einem Bett posieren, ein Laken vor dem Intimbereich. Das Buch heißt Kinder vor der Kamera, der Autor: A. Lippoth.

Jetzt habe ich ihn, denkt Valentin.

Er beschreibt das Buch der Polizei, aber die Beamten sind zu seiner Verwunderung nicht interessiert.

Die nächsten Monate verbringt Valentin immer wieder mit Recherchen zu Lippoth. Er trifft seine ehemaligen Kollegen, um zu erfahren, ob ihnen je etwas aufgefallen sei. Er legt einen Instagram-Account unter dem Namen A. Lippoth an, lädt die Bilder aus dem gefundenen Buch hoch und folgt allen Personen, denen Lippoths richtiger Account auch folgt. Irgendwann schreibt ihm ein Kollege, er solle besser vorsichtig sein.

In dieser Zeit, 2017, kontaktiert Valentin auch mehrere Journalisten deutscher und internationaler Magazine, unter anderem vom ZEITmagazin.

Lippoth ist dem ZEITmagazin nicht unbekannt. Zwischen 2005 und 2010 hat er immer wieder im Auftrag der ZEIT und des ZEITmagazins gearbeitet. Unter anderem schießt Lippoth 2007 Fotos für eine ZEIT-Titelgeschichte zum Thema Geschlechterrollen bei Kindern. Sowie, ebenfalls 2007, Fotos für eine große Geschichte im damaligen ZEITmagazin Leben zum Thema Vaterschaft. 2010 folgt eine Titelgeschichte fürs ZEITmagazin: über die Schwierigkeit, Eltern zu sein. An allen drei Fotoproduktionen waren jeweils ein Junge und ein Mädchen beteiligt. Nach Kenntnisstand des ZEITmagazins gehören die Kinder nicht zu den mutmaßlichen Opfern.

TATEN


Am Nachmittag des 11. August 2021 bekommt Nicolas Bernardi, 30, eine E-Mail von der Polizei Köln mit dem Betreff "Ermittlungsverfahren gegen Achim Lippoth". Ihm ist gleich klar, um was es gehen muss.

Es dauert zwei Tage, bis er sich an die E-Mail herantraut. Die Ermittler fragen, ob er etwas zu ihren Ermittlungen beizutragen habe, es gehe um Kindesmissbrauch.

Sechs Wochen später sitzen er und sein zwei Jahre jüngerer Bruder im Auto und fahren Richtung Köln. Sie sprechen nicht über das, was war, aber Bernardi sieht seinem Bruder an, wie sehr der mit sich kämpft. Bis heute haben sie sich nie gegenseitig erzählt, was ihnen mit Lippoth widerfahren sei, aber als Bernardi ihm von der E-Mail berichtete, schien auch sein Bruder Louis nicht von den Ermittlungen überrascht. "Wir wussten es einfach", sagt Bernardi.

Im Revier nehmen die Polizisten ihre Personalien auf, dann werden sie getrennt voneinander befragt, jeder ungefähr 45 Minuten. Bernardi erinnert sich noch heute an die sehr detaillierten Nachfragen, die ihn erahnen lassen, wie viel weiter Lippoth bei anderen gegangen sein könnte. Er erinnert sich an die Akte, die auf dem Tisch liegt, so dick, dass sie mit einem Gurt zusammengeschnürt werden muss.

Sieben Monate sind seit seiner Aussage vergangen. "Kann ich?", fragt Bernardi und schaut auf die große blaue Kiste, die am Ende des Tisches steht. Er sitzt in seiner geräumigen, modernen Wohnung, im europäischen Ausland. Ihm ist wichtig, dass sein Umfeld nichts erfährt. Deshalb sind sein Name, der seines Bruders und die Orte geändert. Auch alle weiteren mutmaßlichen Opfer, die in diesem Text vorkommen, sowie ihre Familienangehörigen hat das ZEITmagazin anonymisiert.

In der blauen Kiste bewahrt er seine Vergangenheit als Lippoths Kindermodel auf. Bernardi fängt an, Fotos, Negative und alte Prospekte aus ihr herauszuholen, in denen er oder sein Bruder zu sehen sind. Sie füllen den ganzen Tisch.

Er nimmt einen kleinen Katalog einer Modemarke in die Hand. Sein erstes Shooting.

"Das muss um 2000 rum gewesen sein." Da war Bernardi etwa acht Jahre alt.

Lippoth ist damals für das Shooting angereist, hat aber nicht genügend Kindermodels dabei. Er schickt spontan zwei Mitarbeiter in eine Schule, um Kinder zu casten. Am nächsten Tag wird den Brüdern mitgeteilt, dass er sie ausgewählt habe. Bernardi erinnert sich, wie Lippoth später in der Haustür steht, um sie abzuholen. Im Hintergrund sein Porsche, auf dem Beifahrersitz ein kleiner Junge, der mit ihm reiste.

Das Shooting macht den Brüdern Spaß, es sind Aufnahmen im Freien, an einer Hütte. Insgesamt drei Jahre lang werden sie zu den meistfotografierten Kindern seiner Kartei zählen. Sie reisen mehrmals im Jahr nach Köln, anfangs mit den Eltern, die sich nach und nach mit Lippoth anfreunden. Irgendwann dürfen die Söhne auch allein nach Köln, für jedes Shooting kriegen sie ein paar Hundert Euro, die Jungen schlafen dann bei Lippoth in der Wohnung.

"Ich habe mich nie unwohl gefühlt", sagt Bernardi. "Achim hat immer geschaut, dass es uns gut geht. Das war auch der Grund, wieso ich nichts gesagt habe, weil ich sie wirklich cool fand, diese Zeit."

Wenn sie im Studio waren, mussten sie nur für eine halbe Stunde Fotos machen, den Rest der Zeit konnten sie an der Konsole spielen, es gab ein extra Spielzimmer. Irgendwo stand immer ein Wägelchen mit Süßigkeiten und Cola.

Der Übergriff soll im Herbst 2002 stattgefunden haben. Er, sein Bruder und Lippoth fahren von Köln aus im Auto Richtung Süden. Ziel ist eine Insel im Mittelmeer. Zwei Shootings sind geplant, eins für Kid’s Wear, eins für einen Modehersteller. Eine alleinerziehende Mutter, ihre Kinder und einer von Lippoths Assistenten kommen auch mit, sie fahren allerdings mit einem Campingwagen. So haben Lippoth, Bernardi und sein Bruder schnell einen großen Vorsprung. Die erste Nacht verbringen sie zu dritt im Hotel in einer Stadt am Meer.

Bernardi erzählt, wie müde sie alle gewesen seien, als sie an jenem Abend im Hotel angekommen seien. Lippoth habe seinen Bruder und ihn animiert, trotzdem noch zu duschen. Die Tür zum Bad hätten sie offen lassen sollen. Noch während er, Bernardi, unterm Wasser gestanden habe, sei Lippoth in der Badezimmertür aufgetaucht. Habt ihr euch auch richtig gewaschen, soll er zu Bernardis Verwunderung gefragt haben. Als Bernardi sich dann wieder anzieht und gerade dabei ist, die Schlafanzughose über die Unterhose zu ziehen, greift Lippoth noch einmal ein. Das mache man nicht so, soll er gemahnt haben, unter eine Schlafanzughose gehöre keine Unterhose. Bernardi wundert sich kurz, lässt die Unterhose dann weg.

Sie seien dann schlafen gegangen, erzählt er und nimmt sich ein Blatt Papier, um das Zimmer aufzumalen. Links sei das Bad gewesen. Direkt neben dem Bad habe eine Schlafcouch gestanden, hier habe sein Bruder geschlafen. Rechts sei ein Doppelbett gewesen, dort hätten er und Lippoth gelegen. Lippoth habe es so gewollt.

Seine nächste Erinnerung an diese Nacht sei, wie er plötzlich aufwache. Er habe auf dem Rücken gelegen, seine Schlafanzughose sei heruntergezogen gewesen. Lippoth sei gerade dabei gewesen, an ihm Oralverkehr zu vollziehen.

Er macht vor, wie er damals reagiert habe: erstarrt, der Körper angespannt, die Augen weit aufgerissen.

"Ich habe mich nicht bewegt, weil ich nicht wollte, dass er mitbekommt, dass ich etwas mitbekommen habe."

Minuten seien vergangen, in denen Bernardi einfach nur ausharrt und Mut sammelt. Dann, in der Hoffnung, dass Lippoth glaubt, es sei eine natürliche Bewegung, habe er sich auf die Seite gedreht, das Gesicht Richtung Wand, den Rücken zu Lippoth. Der wiederum habe noch versucht, ihn zurück auf den Rücken zu drehen, aber Bernardi sagt, er habe dagegengehalten. Als Lippoth dann aufgestanden und im Bad verschwunden sei, habe er sich schnell die Hose hochgezogen. Irgendwann sei er dann wieder eingeschlafen.

Bernardi sagt, seine Erinnerungen an den Rest der Reise seien verschwommen. Lippoth, der so getan habe, als sei nie etwas passiert. Die anderen mit ihrem Camper, in dem auch die Brüder die nächsten Tage schlafen. Da ist die karge Landschaft, der Fluss, an dem sie spielen. Die Kamera, die ihnen folgt. Lippoth schießt ständig Fotos. Ein paar von ihnen erscheinen später in Kid’s Wear.

Er sagt, sie hätten auch nach der Reise noch öfter bei Lippoth geschlafen. Aber ihm sei nur dieses eine Mal etwas passiert. Er zögert kurz, korrigiert sich dann: "Eigentlich muss ich es so sagen: Einmal bin ich dabei erwacht."

Mithilfe von Fotos und ehemaligen Mitarbeitern, darunter die Stylistin, die Bernardi gecastet hat, der Assistent, der mit auf die Insel kam, Koppenwallner und Schulze-Niestroy, lässt sich fast alles an Bernardis Erzählung überprüfen. Nur was in jener Nacht im Hotel passiert ist, dafür gibt es keine Zeugen. Lippoth bestreitet die Vorwürfe. Und der Bruder schlief. Es steht also Aussage gegen Aussage. Doch die Polizei spricht 2021 noch mit fünf anderen Jungen, die aussagen, von Lippoth missbraucht worden zu sein.

Da ist Louis Bernardi, Nicolas’ Bruder. Er sagt der Polizei, Lippoth habe Oralverkehr an ihm verübt. Der Tatort soll Lippoths Wohnung in Köln gewesen sein. Bei einem weiteren Mal soll Lippoth onaniert haben, während er Louis’ Penis anfasste.

Da ist Ben Hippe, der Sohn einer Angestellten von Lippoth. Er erzählt der Polizei von einer Reise im Frühjahr 1999, Disney World, Orlando, Florida, USA. In einem Schwimmbad soll Lippoth mit einem Finger in den Jungen eingedrungen sein.

Da ist Malte Thole, der auch Kindermodel für Lippoth war. Über mehrere Jahre schicken seine Eltern ihn immer wieder mit Lippoth allein in den Urlaub. Die mutmaßlichen Taten an ihm aus den Jahren 2003 und 2006 beschreibt die Anklage, die das ZEITmagazin einsehen konnte, in kaum aushaltbaren Details. Auf einer Maledivenreise soll der Angeschuldigte den damals neunjährigen Jungen über den Badewannenrand gelegt haben, er sei anal in ihn eingedrungen und habe "trotz Schmerzen" des Kindes weitergemacht.

Da ist Samuel Wehmann, für den Valentin den Fernseher kaufte. Er sagt der Polizei, im August 2012 sei es zu gegenseitiger Masturbation gekommen.

Und da ist Collin Zapfe, das Lieblingskind, das der Praktikant Max Valentin immer wieder mit Lippoth beobachtet. Zapfe ist es, der im Sommer 2021 zur Polizei geht, als er es nicht mehr aushält – und so die Ermittlung ins Rollen bringt. Die meisten angeklagten Taten sind zu seinem Schaden. Die Vorwürfe reichen von wiederkehrendem Oralverkehr bis zu versuchtem Analverkehr. Einmal habe sich Collin mit gespreizten Beinen aufs Bett legen müssen, einmal habe Lippoth ein Video vom Missbrauch gemacht.

Das ZEITmagazin hat Achim Lippoth mit sämtlichen Vorwürfen konfrontiert, er will dazu nicht Stellung nehmen. In einem Warnschreiben seines Medienanwalts vom 15. Juli 2021, in dem es um das Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger geht, heißt es: "Der Vorwurf wird von unserem Mandanten bestritten."

Die Recherchen des ZEITmagazins zeigen: Es könnte noch mehr mutmaßliche Opfer geben.

MACHT


Für Minuten ist in der Leitung nur schweres Atmen zu vernehmen, als der Name Achim Lippoth fällt. "Wie haben Sie mich gefunden?", fragt Matthias Loibl.

Oberrot, eine Gemeinde im Landkreis Schwäbisch Hall, 3600 Einwohner. Zwei Kirchen, eine Mühle. Der Jakobsweg führt durch diesen Ort, der FC Oberrot veranstaltet im Sommer ein Fußballcamp für Jungen und Mädchen. Es ist der Verein, in dem vor vielen Jahren auch Achim Lippoth spielte. Matthias Loibl ist hier aufgewachsen.

Loibl lässt sich in einen alten Sessel fallen. Er ist 47 Jahre alt, nur sechs Jahre jünger als Lippoth. Bis heute hat er nur mit seiner Ex-Frau und mit Lippoth selbst über die Vorwürfe geredet. Nie mit der Polizei.

"Ich denke, ich war sein erstes Opfer", sagt er.

Er erzählt, er sei damals zehn oder elf Jahre alt gewesen, Lippoth 16 oder 17. Loibls Eltern hatten Familie Lippoth darum gebeten, dass ihr Sohn Achim ab und an auf den jüngeren Loibl aufpasse. Lippoth habe Loibl im Pool seiner Eltern das Tauchen beibringen wollen. Loibl sagt, am Anfang habe er es toll gefunden. Dann langsam habe er begonnen, sich zu wundern, warum Lippoth jede Gelegenheit genutzt habe, ihn zu berühren. Harmlose Berührungen seien das gewesen, fast zufällig, beim Anlegen der Tauchausrüstung, Anzug-Ausziehen, Brille-Zurechtrücken. Loibl sagt, er glaube heute, mit den Berührungen habe Lippoth erkunden wollen, ob Loibl sich bei dem, was dann folgte, wehren würde.

Eines Tages seien sie an der Hütte eines Bauern vorbeigekommen. Dort drin, auf dem Heuboden, habe Lippoth ihn beim Raufen plötzlich zu sich heruntergezogen und sich nackt an ihm gerieben. Irgendwann habe er etwas Nasses gespürt. Daraufhin habe Lippoth aufgehört.

Er selbst habe Minuten gebraucht, bis er es geschafft habe, langsam von Lippoth herunterzugleiten. Lippoth habe noch gesagt: Das muss unbedingt unter uns bleiben. Er brauche sich keine Gedanken zu machen, habe er, Loibl, ihm geantwortet.

Übergriffe, im Ablauf ähnlich wie dieser, passieren in den nächsten Monaten mindestens zwei weitere Male, sagt Loibl. Er habe versucht, nicht mehr zu Lippoth zu müssen, habe sich krank gestellt, wenn seine Eltern ihn schicken wollten.

Sein ganzes Leben sei in den Jahren danach Stück für Stück aus den Fugen geraten, sagt Loibl. Er habe sich nicht mehr konzentrieren können, habe Schwimmbäder gemieden, Mädchen auch, im Unterricht sei er so abgeschmiert, dass er auf die Sonderschule wechseln musste.

Überprüfbar sind die Vorwürfe nicht. Bei allen Übergriffen sind Loibl und Lippoth immer nur zu zweit.

Zwanzig Jahre vergehen, bis Loibl entscheidet, er müsse etwas tun. Es ist in einer Zeit, in der er viel über andere Fälle liest, in denen Opfer es nicht geschafft hätten, mit der Vergangenheit abzuschließen. "Ich will nicht so enden, ich will mein Leben in den Griff kriegen, und vor allem will ich nicht mehr in dieser unterlegenen Position sein."

Zur Polizei zu gehen hält er für zwecklos. Er ist sich sicher, dass die Taten bereits verjährt sind. Also beginnt Loibl im Netz nach Lippoth zu suchen. Er recherchiert, wo Lippoth wohnt, wo er arbeitet und mit wem, schreibt sich dann die Adressen raus.

Am 29. Juli 2010, einem Donnerstag, fährt Loibl, mittlerweile 36, nach Köln, um die gefundenen Orte auszukundschaften. Er schaut sich das Studio an, die Garage, die Umgebung. Er sei sogar voller Angst ins Studio rein, aber ein Mitarbeiter habe ihn abgewiesen: Den Achim kriegt man nur mit Termin, habe der gesagt. Der Mitarbeiter will wissen, wer er sei, aber Loibl habe sich einfach umgedreht und sei raus. Draußen habe er noch ein Foto gemacht, es liegt dem ZEITmagazin vor. Zudem erinnert sich ein Mitarbeiter an den merkwürdigen Auftritt eines Mannes, dessen Beschreibung auf Loibl passt. Ein anderer Mitarbeiter erzählt, Lippoth habe danach ein Schloss anbringen lassen, damit niemand mehr in der Lage war, einfach so das Büro zu betreten.

Loibl sagt, nach dem Besuch sei ihm klar geworden, dass er besser planen müsse, bevor er Lippoth gegenübertrete. Er habe sich eine kryptische E-Mail-Adresse zugelegt und Lippoth geschrieben. Wer er sei, habe er nicht offenbart, nur dass Lippoth ihn gut kenne und es da eine Sache gebe, über die er sich seit Jahren Gedanken mache. Lippoth habe geantwortet. Sie hätten ein paar Mails gewechselt, dann habe der Termin gestanden. Treffpunkt: ein Restaurant in Frankfurt am Main. Die Mailadresse besitzt Loibl nicht mehr.

Loibl erzählt, ihn habe gleich irritiert, wie unheimlich locker Lippoth gewirkt habe, so als mache es ihm nichts aus, Loibl zu sehen. Er, Loibl, habe ihn dann gebeten, dass sie reingehen. Vom ersten Moment an habe er den Ton angeben wollen.

Sie setzen sich in die hinterste Ecke.

"Ich habe die ganze Zeit über versucht, ruhig, aber bestimmt das Wort zu haben. Und ich habe ihm immer bloß Fragen gestellt. Wie er sich gefühlt hat, als ich auf ihm liegen musste. Und wie er sich gefühlt hat, als er dann gekommen ist und mich dazu benutzt hat. Wie er sich gefühlt hat, als er bestimmt hat, dass meine Hand an seinem Glied ist. Solche Fragen, immer wieder. Ich wollte, dass er sich wenigstens ein bisschen schuldig fühlt, und ich musste ja auch für mich verstehen, dass ich nicht der Schuldige bin, dass ich einfach von ihm benutzt worden bin."

Lippoth habe vor allem geschwiegen. "Vielleicht hat er gedacht, ich nehme das auf, und er wollte kein Geständnis ablegen." Er sagt, für ihn habe Lippoth es sowieso damit eingestanden, dass er nicht protestiert habe, als er, Loibl, von ihm 75.000 Euro Schmerzensgeld gefordert habe. Lippoth habe nur gefragt, ob er sich sicher sein könne, dass er, wenn er das Geld habe, Ruhe gebe. Loibl habe geantwortet, dass er sich auf sein Wort verlassen könne.

Das Geld habe er bei einem zweiten Treffen bekommen, sagt Loibl. Ein daumendicker Stapel 500-Euro-Scheine in einem hellbraunen A5-Umschlag. Ein Augenzeuge, der in keinem Bezug zu Loibl steht und dessen Identität hier geschützt werden muss, bestätigt dem ZEITmagazin die Übergabe in Frankfurt. Er hat die beiden beobachtet.

Heute ist das Geld längst weg, Loibl hat sich ein paar schöne Reisen davon gegönnt, etwas in sein Unternehmen investiert, ein bisschen gespendet. Er habe sich außerdem eine komplette Taucherausrüstung davon gekauft. Er verstehe nur nicht, warum.

Er ist froh, diesen Weg gegangen zu sein, sagt Loibl, wegen der Umkehr des Machtverhältnisses. Aber das Geld habe sich vom ersten Moment an nicht richtig angefühlt. Wenn man Geld für eine gute Leistung bekommt, dann könne man sich darüber freuen. Aber hier sei es ja nicht so gewesen, dass er dafür eine Leistung erbracht habe, auf die er hätte stolz sein können, hier habe er eine Leistung erbracht, die er gar nicht erbringen wollte.

HERKUNFT


Nur wenige Kilometer entfernt sitzt Lippoths Vater in einem blauen Gartenstuhl auf der Terrasse seiner kleinen Parterrewohnung. Noch weiß niemand in Oberrot von den Vorwürfen gegen seinen Sohn. Und auch der Vater weiß fast nichts, sein Sohn habe ihm seit der Verhaftung im vergangenen Jahr lediglich von einer Anzeige erzählt. Lippoths Mutter ist seit elf Jahren tot.

Achim ist Einzelkind. Weil die Eltern mehrere Gaststätten besitzen, ist es vor allem der Opa, der die Erziehung übernimmt. Schon als Kind seien andere Kinder nach ihm verrückt gewesen, sagt der Vater. Er erzählt von dem großen Pool, den sie damals gehabt hätten. Die Kinder des ganzen Dorfes seien mit ihren Eltern gekommen und hätten bei ihnen gebadet.

Im Fußballverein spielt Achim Rechtsaußen im Sturm. Er sei schnell gewesen. Erst in Oberrot, dann in Schwäbisch Hall, dann beim VfB Stuttgart, später, mit 17 oder 18, ging er auf eine Fußballschule in Manchester. Im Flur hängen noch alte Mannschaftsbilder von ihm. Dass sein Sohn in einem anderen Metier so groß rauskäme, hat der Vater nicht erwartet.

Die ersten fotografischen Aufträge sucht sich der Sohn in Kindergärten und Schulen. Irgendwann sei er dann von seiner heutigen Agentin gecastet worden.

Der Vater sagt, er könne die Beschuldigungen nicht glauben, Collin habe Achim so geliebt. Er kenne Collin, der sei auch mal hier zu Besuch gewesen, mit seiner Mutter. Der Junge sei ganz auf Achim fokussiert gewesen. "Dass er ihn auf der anderen Seite anklagt, das passt ja irgendwie nicht zusammen." Er vermutet, die Mutter könne dahinterstecken, vielleicht Rache, weil der Achim sie nicht habe heiraten wollen.

Auf die Frage, ob er schon mal von einer Geldzahlung gehört habe, sagt er Ja, an den Loibl aus dem Ort hier. Wie hoch sie war, weiß er nicht. "Ich weiß bloß, dass er ihn beschwindelt hat. Und dass der Achim ihm dann Geld gegeben hat." Er glaube, der habe damals Geld gebraucht und seinem Sohn deshalb gedroht.

Als der Vater vom ZEITmagazin erfährt, dass da mehr Kinder seien, die möglicherweise betroffen sind, schweigt er lange. "Der Achim ist ein weltbekannter Mann, der hat so viele Aufträge. Dass der so was machen würde, das kann ich mir nicht vorstellen." Er sagt, sein Sohn habe ihm gerade noch aus der Untersuchungshaft geschrieben, dass er sich nicht so viele Gedanken machen solle, alles werde wieder gut. Er zeigt den Brief.

"Er hat mir immer erzählt, die Eltern seien begeistert von ihm, und er war ja bei der Arbeit auch nicht mit den Kindern allein, da ist ja eine ganze Crew. Dann müssten die ja auch was gesehen haben?! Wenn Achim an ein Kind herangegangen ist, dann wird es ja sicher nicht gesagt haben, oh, ist das schön, mach nur weiter."

STRATEGIEN


Achim Lippoth schafft sich mit seiner Kindercasting-Agentur ein System, das ihn über zwei Jahrzehnte kontinuierlich mit Kindern und somit auch potenziellen Opfern versorgt. Anhand der Schilderungen von 13 ehemaligen Mitarbeitern lässt sich rekonstruieren, welcher Strategien sich Lippoth bediente.

Bis auf Katharina Koppenwallner und Marc Schulze-Niestroy bitten alle darum, anonym zu bleiben. Einige, weil sie Angst haben, in der Branche keinen Job mehr zu bekommen. Andere fürchten Lippoths Rache. Viele empfinden heute Schuldgefühle, weil sie für ihn gearbeitet haben.

Nachdem Achim Lippoth 2003 das erste Mal mit einer Anzeige konfrontiert wird, scheint er vorsichtiger zu werden. Während er bis 2003 wenigstens sporadisch private Kontakte zu Mitarbeitern pflegt, beschreiben ihn spätere Angestellte als unnahbar: "Man hatte das Gefühl, er hat kein Leben."

Immer wieder, so mehrere Mitarbeiter, seien nun Kinder, die gerade noch präsent waren, plötzlich aus der Kartei verschwunden.


Über Personen, die ihm gefährlich werden könnten, habe er Gerüchte gestreut, um ihre Glaubwürdigkeit zu diskreditieren. Der wolle sich rächen, die habe Geld veruntreut. Permanent stößt das ZEITmagazin im Laufe der Recherche auf Personen, die deshalb vor anderen ehemaligen Kollegen warnen.

Manche möglichen Opfer hingegen versucht er nah bei sich zu halten. Malte Thole, eines der Opfer aus der Anklage, wird später Lippoths Aushilfe. Einer der Jungen, die in dem von Valentin gefundenen Buch von Lippoth aus dem Pojkart-Verlag vorkommen, ist als Bildbearbeiter für ihn tätig. Als er in einem Gespräch mit dem ZEITmagazin das erste Mal die Aufnahmen von damals sieht, bricht er zusammen. Auch er habe als Kind oft bei Lippoth geschlafen, sagt er.

Nach außen hin versucht sich Lippoth von jeglichem Verdacht präventiv zu distanzieren. Er fotografiert eine Kampagne gegen Kindesmissbrauch für die NGO Innocence in Danger, die sich weltweit gegen sexuellen Missbrauch von Kindern engagiert. Der damalige Slogan: "Sexually abused children are betrayed by someone they trust." Sexuell missbrauchte Kinder werden von jemandem betrogen, dem sie vertrauen.

Doch Lippoth scheint auch Angst gehabt zu haben, aufzufliegen. Ein Mitarbeiter erzählt, wie er Lippoth angetroffen habe, am Morgen nachdem Max Valentin auf Instagram die Bilder aus Lippoths Buch veröffentlicht hat. Zum ersten Mal sieht der Assistent seinen Chef aufgelöst und zittrig. Da will mir einer was anhängen, habe Lippoth gesagt. Er habe damals Geld gebraucht, nur deshalb habe er für den Pojkart-Verlag gearbeitet.

Es gibt eine weitere wesentliche Strategie, derer Lippoth sich zur Verschleierung seiner Taten bedient: die der Illusion.

Schon früh in seiner Karriere haben Mitarbeiter das Gefühl, dass Lippoth versuche, ihnen eine Heterosexualität vorzutäuschen, um von einer möglichen pädophilen Neigung abzulenken. Koppenwallner erzählt, Lippoth habe über Frauen immer Sprüche gemacht wie "Oh, die hat aber große Brüste" oder "Bei der kriegst du ein Rohr". Fast einstudierte Sätze, die klingen wie von einem Zwölfjährigen, der ausprobiert, wie weit er gehen kann. Koppenwallner erzählt außerdem, Lippoth habe gern vor anderen behauptet, dass sie seine Freundin sei.

Fast alle Personen, mit denen das ZEITmagazin spricht, beschreiben außerdem, dass Lippoth stets familiäre Anbindung gesucht habe. Mehrere Mitarbeiter berichten, er habe Kinder als seine Patenkinder vorgestellt, obwohl sie es nicht waren.

Während er in den ersten Jahren seiner Karriere eher die Position eines Patenonkels oder Freundes der Familie einnimmt, ist er mit den Müttern seiner möglichen letzten beiden Opfer über viele Jahre zusammen. Mitarbeiter aus dieser Zeit berichten, sie seien von den Beziehungen irritiert gewesen. Lippoths Aufmerksamkeit habe immer den Söhnen gegolten, die oft wie von ihm besessen schienen. "Man hat nie Zuneigung zwischen ihm und den Müttern gesehen", sagt ein ehemaliger Angestellter.

Mehrere Mitarbeiter berichten, dass Lippoth auf Reisen oft mit den Kindern in einem Zimmer geschlafen habe, während die Frauen in anderen Zimmern, zum Teil sogar in anderen Häusern untergebracht waren. Ein Mitarbeiter mit Einblick in Lippoths Konten erzählt, dass Lippoth den Frauen permanent teure Geschenke gemacht habe: Taschen von Louis Vuitton, Prada, Gucci. Außerdem soll Lippoth für eine Küche, Renovierungsarbeiten und Privatschulgebühren aufgekommen sein.

VERANTWORTUNG


An einem langen Tisch in der Kanzlei ihres Anwalts Alexander Cormann sitzt Susanne Wehmann, 52 Jahre alt. Fünf Jahre lang war sie die Frau an Achim Lippoths Seite.

Hat er Ihnen auch Geschenke gemacht?

"Ja."

Was für Geschenke?

"Ja, so teure Geschenke."

Was denn für teure Geschenke?

"Mal eine Tasche oder so."

Gucci, Prada, Louis Vuitton – ist das richtig? Haben Sie solche Taschen bekommen?

"Ja, das stimmt."

Und teure Kleidung?

"Ja, aber eher weniger, mal ein Handy."

Könnten Sie dazu noch mehr erzählen?

"Nee, es waren einfach viele Geschenke."

Sie schluckt.

Lippoth und sie lernen sich am 6. Dezember 2009 in einem Kaufhaus kennen. Er würde Samuel gerne für ein Shooting casten, sagt er. Anfangs, sagt Wehmann, sei sie noch skeptisch gewesen. Wieder zu Hause, recherchiert sie im Internet seinen Namen. Zwei Tage später steht Samuel erstmals vor Lippoths Kamera.

"Was soll ich sagen: Die Fotos waren ganz toll. Mein Sohn war schon immer sehr hübsch, sehr fotogen. Ich dachte damals, vielleicht kommt er ganz groß raus."

Lippoth habe sich sehr um sie bemüht, sagt Wehmann. Ständig sei er vorbeigekommen, um ihr die neuesten Fotos zu zeigen.

Am Anfang habe er ihr überhaupt nicht gefallen. Er war ihr zu dick. Aber sie mag, dass er sich so für ihren Sohn interessiert, dessen Vater immer abwesend war. Ihr gefällt auch, wie er für die kleine Familie Reisen nach Los Angeles und auf die Malediven bezahlt. "Ich mein’: Ich habe einen guten Job, verdiene mein eigenes Geld. Aber ich flieg ja nicht mal eben auf die Malediven!"

Nur eines passt nicht. Intimitäten habe es schon gegeben, Küsse, das ja, aber Lippoth habe keinen Sex gewollt, sagt Wehmann. Nicht ein einziges Mal hätten sie in den fünf Jahren miteinander geschlafen. Sie bespricht sich mit Freundinnen, auch die finden das seltsam. "Ich habe oft gedacht: Jetzt trenne ich mich, es geht so nicht." Doch jedes Mal habe er sie umstimmen können, habe von einer schmerzhaften Trennung erzählt, von einer Blockade, die diese in ihm ausgelöst habe. Immer wieder habe er gesagt: "Ihr seid das Wichtigste, ich brauche euch!"

Susanne Wehmann hält einen Moment lang inne, dann sagt sie: "Heute weiß ich natürlich, dass er mich nur ausgenutzt hat. Dass es ihm nie um mich ging."

Stimmt es, dass Ihr Sohn auch alleine bei Lippoth geschlafen hat?

"Ja, das stimmt."

Stimmt es, dass Sie im Urlaub auch getrennt geschlafen haben? Sie in dem einen Raum, Ihr Sohn mit Lippoth in einem anderen?

"Ja, manchmal. Für mich war das einfach mal eine Auszeit. Die beiden haben sich so gut verstanden."

Sie zögert. Dann sagt sie: "Warum habe ich es nicht gesehen? Wollte ich es nicht sehen? Habe ich mich kaufen lassen?"

Im Frühjahr 2015 beendet Achim Lippoth die Beziehung, erzählt sie. Samuel ist da 14. Sie seien zu dritt auf den Malediven gewesen, ein harmonischer Urlaub. Am Kölner Hauptbahnhof habe er ihr gesagt: Es ist vorbei. Einfach so. Es sei besser für sie.

Während des Gesprächs mit dem ZEITmagazin lacht Wehmann ab und an, so wie man manchmal an völlig falschen Stellen lacht, weil man einfach nicht weiß, wie man sonst mit etwas umgehen soll. Streckenweise wirkt sie unbeteiligt, bemüht um Faktentreue, aber eben auch, als habe das wenig mit ihr zu tun.

Ihr Sohn ist 22 Jahre alt. Manchmal erscheint er ihr abwesend und gefühlsverweigernd. Seine Aussage bei der Polizei sei dünn, sagt sein Anwalt, er habe Lippoth nicht belasten wollen.

FEHLER


Am 27. August 2013 nimmt ein junger Mann, 20 Jahre alt, im Kölner Polizeipräsidium Platz. Er wolle, sagt er, Strafanzeige gegen einen Fotografen erstatten, Achim Lippoth heiße der.

Die Taten, von denen er berichtet, reichen in die Jahre 2000 und 2001 zurück. Er sei damals Kindermodel für Lippoth gewesen, sagt David Bakary. Zweimal habe er bei Lippoth übernachtet, und beide Male sei etwas passiert. Einmal habe Lippoth mit seiner, Bakarys, Hand masturbiert, und das andere Mal habe Lippoth seinen Penis an seinem, Davids, Hintern gerieben.

Die Befragung dauert laut Vernehmungsprotokoll nur 34 Minuten. Bakary, heute 29, sagt dem ZEITmagazin, im Grunde sei ihm da schon klar gewesen, dass die Anzeige nirgendwo hinführen werde.

Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs, noch dazu bei lange zurückliegenden Taten, sind strafrechtlich heikel. So gut wie nie gibt es Sachbeweise oder Zeugen. Erinnerungen verschwimmen. Am Ende bleibt meist nur die Aussage des Opfers und das Dementi des möglichen Täters. Ermittler wissen das.

Doch bei Bakary gibt es mehr als das. Es gibt zumindest Menschen, die bestätigen, dass er schon 2001 von den mutmaßlichen Taten berichtet habe: die Mutter, der er auf ihre Fragen hin alles erzählte. Die Frau vom Kinderschutzbund, zu der die Mutter ihn dann gebracht hat, um Rat zu finden. Außerdem lag der Polizei, als Bakary aussagte, bereits die anonyme Anzeige wegen Kindesmissbrauchs aus dem Jahr 2003 vor.

Als Bakary 2013 zur Polizei geht, passiert dennoch drei Monate lang so gut wie nichts. So lässt es sich in der damaligen Ermittlungsakte nachlesen. Erst als die Anzeige des Praktikanten Max Valentin eingeht und der Name Achim Lippoth ein zweites Mal binnen weniger Monate im Zusammenhang mit pädophilen Taten auftaucht, soll es schnell gehen. Am 11. November 2013 erlässt das Amtsgericht Köln Durchsuchungsbeschlüsse für drei Immobilien: Lippoths Wohnung, sein Büro und seinen Keller.

Doch dann passiert am Amtsgericht Köln ein folgenschwerer Fehler. David Bakary soll eine Rechtsanwältin bekommen. Das Schreiben dazu wird jedoch nicht nur Bakary und seiner Anwältin zugestellt – sondern samt Tatvorwurf ("sexueller Missbrauch von Kindern") auch dem bislang ahnungslosen Achim Lippoth. Er ist somit vorgewarnt – und die Durchsuchungen sind hinfällig.

Stattdessen beantragen die Ermittler nun eine Begutachtung von Bakary, die klären soll, wie glaubwürdig seine Aussage ist. Bakary sagt, die Gutachterin sei nett gewesen, er habe nicht jede Frage beantworten können, aber sie habe ihm signalisiert, dass sie ihn für glaubhaft halte.

Trotzdem stellt die Staatsanwaltschaft im Juli 2015 das Verfahren wegen des möglichen sexuellen Missbrauchs gegen Achim Lippoth ein.

Die Gutachterin von damals erinnert sich noch heute daran. Sie habe sich gewundert, dass in diesem Fall nichts weiter passiert sei, sagt sie. Bakary habe sich zwar nicht mehr wirklich detailreich an die Vorfälle erinnern können, was für eine Falschbeschuldigung hätte sprechen können, hätte er nicht seiner Mutter schon 2001 von den Taten berichtet. Sie sagt, sie habe der Staatsanwaltschaft damals empfohlen, seine Mutter einzuladen und zu fragen, ob ihr Sohn ihr tatsächlich damals von den Vorfällen erzählt habe. "Wenn sich das bestätigen ließe, konnte es ihm nicht nachträglich eingeredet worden sein."

Tatsächlich laden die Ermittler Bakarys Mutter ein. Die Ermittlungsakte belegt, dass sie die Schilderungen ihres Sohnes bestätigt. Und nicht nur das, sie nennt den Ermittlern sogar Vornamen und Alter eines weiteren Kindes, von dem sie befürchtet, Lippoth könnte es missbraucht haben. Die Ermittler damals können ihn angeblich nicht ausfindig machen. Es ist eines der Opfer aus der heutigen Anklage.

MUT


Es ist der 11. Juni 2021, als Malte Thole einen Anruf bekommt. "Achim Lippoth" steht auf seinem Display, mal wieder. Er hat zwar schon länger nichts von ihm gehört, aber dass Lippoth sich bei ihm meldet, zu Geburtstagen oder anderen Anlässen, ist nicht ungewöhnlich.

Er komme jetzt zu ihm, sagt Lippoth am Telefon. Die beiden verabreden sich in einem Restaurant. Kaum angekommen, beginnt Lippoth zu erzählen. Dass er gerade eine Nacht in Untersuchungshaft verbracht habe. Dass es ein Ermittlungsverfahren gegen ihn gebe, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Lippoth redet schnell weiter: So ein Verfahren gegen ihn habe es ja 2013 schon gegeben, und das habe sich in Luft aufgelöst, das sei alles kein Problem. "Er schaute mir in die Augen und meinte: 'Du verrätst mich doch nicht, oder? Du hast mich doch lieb?'"

Malte Thole, heute 26 Jahre alt, sitzt in seiner Einzimmerwohnung, Skateboards, Kurt-Cobain-Poster. Schüchtern wirkt er. Vor ihm ein großer Fernseher. Ein Geschenk von Lippoth.

Fast tonlos erzählt er von seiner letzten Begegnung mit Lippoth. "Klar, Achim", habe er gesagt, "ich sage den Cops nichts."

Lippoth muss wissen, dass ihm kaum jemand so schaden kann wie Thole. Über sechs Jahre hinweg lassen ihn seine Eltern als Kind jedes Jahr mehrmals wochenlang alleine mit Lippoth in den Urlaub fahren. Die Dimension dessen, was er erlebt haben könnte, ist kaum abschätzbar. Auf die Frage, was er ihm angetan habe, antwortet Thole nur leise: "Reicht es, wenn ich sage: ›Das Schlimmste‹?"

Über die Jahre habe Lippoth ihm subtil immer wieder zu verstehen gegeben, dass es sinnlos wäre zu reden. Einmal etwa, als der Verdacht durch die Medien ging, Michael Jackson habe Kinder sexuell missbraucht. Da habe Lippoth ihm gesagt, dass die Vorwürfe sowieso vor Gericht keinen Bestand haben würden, wenn es nur die Aussage eines Opfers gebe.

18 Jahre lang hat Thole geschwiegen, hat das Erlebte ignoriert, wie er sagt. Auch um sich nicht von den Bildern und Gefühlen von damals einholen zu lassen.

Er litt unter Depressionen und Angststörungen, in der Schule hatte er Probleme, selbst in einer Psychotherapie gelang es ihm nicht, sich zu öffnen. Immer wieder meldete sich Lippoth bei ihm, immer wieder ging Malte Thole ran, fuhr hin, arbeitete eine Zeit lang sogar in seinem Fotostudio.

Eine Woche nach ihrem Gespräch im Restaurant klingelt sein Handy wieder. Noch ist Lippoth ein freier Mann, erst ein paar Tage später, am 21. Juni 2021, wird er an einem Flughafen von den Behörden ein zweites Mal gestellt. "Willst du nicht das Wochenende zu mir kommen?" Doch Thole will nicht.

Dann meldet sich auch die Polizei bei ihm. Er soll als Zeuge aussagen. Im ersten Moment nimmt er sich noch vor, Achim zu schützen, alles zu leugnen.

Er kann selbst nicht ganz begreifen, warum er sich in letzter Sekunde doch umentscheidet. Vielleicht ist es die Verkettung von Umständen. Die Fortbildung zu sexualisierter Gewalt bei seinem Praktikum am Tag zuvor. Der Freund, der sieht, dass etwas nicht stimmt. Der ihn sich schnappt und drängt: Jetzt sag mir endlich, was los ist, Mann! Der sich dann irgendwann Tholes Handy nimmt und für ihn die Mutter anruft. "Du musst es ihr jetzt sagen."

An diesem Abend, am Küchentisch, erzählt er es seiner Mutter. Gemeinsam gehen sie am nächsten Tag zur Polizei. Bald wird er auch vor Gericht aussagen.