DIE GRÜNE HÖLLE
// Der Spiegel 

Seit vier Jahren ist Simone Peter Vorsitzende der Grünen. Doch niemand in der Partei nimmt sie richtig ernst. Wie hält man das aus?


Vier Wochen später, als Simone Peter bei einem Mittagessen über diesen denkwürdigen Parteitag spricht, wird das Wort Leere fallen.

Berliner Velodrom. Es ist Mitte Juni. Noch zwei Stunden, dann erklingt der Satz, vor dem Simone Peter so einen Respekt hat:

"Simone, die Bühne gehört dir."

Während Cem Özdemir gerade ins Mikrofon brüllt, sitzt Peter da auf einem Stuhl, verloren in ihrer roten Jacke. Geistesabwesend starrt sie nach vorn.

Vor ihr liegt schon das Manuskript, jeder kann sehen, wie sie zum Kuli greift, den Text wieder und wieder umschreibt. Es ist eine wichtige Rede, die Peter heute halten muss, vielleicht die entscheidende. Sie weiß, sie muss heute begeistern, muss beruhigen, muss führen, kurzum: Parteichefin sein. Und genau da liegt das Problem.

Das Warten ist schlimm, aber am schlimmsten, so erzählt es Peter später, ist die Angst vor der Stille nach der Rede, das Gefühl, nach Hause in das kleine Berliner Apartment zu kommen, und da ist niemand. Nie sei man der eigenen Leere so nah wie allein auf der Couch nach einem Parteitag. Sie hat sich deshalb, zur Sicherheit, für den Abend mit ihrem Bruder auf ein Bier verabredet.

Wer sich Simone Peters Lebenslauf durchliest, erwartet eine starke, selbstbewusste Frau. Sie hat einen der Spitzenjobs in der Berliner Politik, auf dem Papier eine makellose Karriere. Studium der Biologie, Promotion über Gewässerökologie, Umweltministerin im Saarland, seit 2013 Grünen-Parteichefin, zusammen mit Cem Özdemir.

Aber dann sitzt man einer Frau gegenüber, die von ihren Träumen erzählt. Wie sie plötzlich wieder in der Abiturprüfung sitzt, den Griffel bereit in der Hand, aber unfähig zu schreiben. Wie sie in ein Taxi springt, weil sie einen dringenden Termin hat, der Wagen aber nicht von der Stelle kommt. Wie sie wieder Studentin ist und es diesmal nicht schafft, die Dissertation rechtzeitig abzugeben.

Wann hat das alles begonnen? Es läuft schon lange nicht mehr gut für Simone Peter. Als sie im Oktober 2013 zur Nachfolgerin der schillernden Claudia Roth gewählt wurde, hieß es, die blasse Peter habe ihren Job allein der grünen Quotenregelung zu verdanken. Die schlechte Presse versucht sie mit Humor zu nehmen. Schlimmer könne es ja nun gar nicht mehr kommen, sagt sie bei ihrem ersten Gespräch mit Hauptstadtjournalisten. Wie soll sie auch ahnen, dass der Weg noch weiter bergab führen wird?

Ständig zwingt Realo Özdemir, der im Gegensatz zu ihr schon seit über 20 Jahren in der Bundespolitik ist, sie in die Defensive. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn Peter wenigstens die Parteilinken hinter sich hätte, aber die sind gespalten. Peter ist eine Frau mit einem Amt, aber ohne Macht.

Wie einsam es um sie geworden ist, bekommt sie am Neujahrstag 2017 zu spüren, Peter kann sich noch an alle Details erinnern. Sie kam gerade von einem Spazier- gang mit ihrer Familie zurück, als sie in ihren Mails eine Anfrage der "Rheinischen Post" findet. Es geht um einen Kommentar zum Polizeieinsatz in der Kölner Silvester- nacht. Peter schaut schnell auf Twitter, liest eine Stellungnahme von Amnesty International und schickt dann drei Sätze ab. Sie schreibt erst, dass durch die Beamten ein Gewaltexzess verhindert worden sei. Dann schiebt sie den Satz nach:

"Allerdings stellt sich die Frage nach der Verhältnis- und Rechtmäßigkeit, wenn insgesamt knapp 1000 Personen allein aufgrund ihres Aussehens überprüft und teil- weise festgesetzt wurden."

Danach legt sich Peter schlafen. Als sie am 2. Januar aufwacht, rollt bereits eine Welle des Hasses auf sie zu. Im Netz wird sie als "Schlampe" beschimpft, in Zeitungskommentaren heißt es, ihre Worte seien schäbig. Niemand aus der Führungsriege der Partei springt Peter bei, Cem Özdemir distanziert sich, sagt, die Einsatzkräfte hätten konsequent gehandelt. Was Peter am Ende rettet, ist paradoxerweise die "Bild"-Zeitung. Die startet eine Kampagne unter der Zeile "Dumm, dümmer, Grüfri". Danach heißt es in der Partei, man könne Peter nun nicht fallen lassen. Das würde so aussehen, als hätte man dem Druck der Boulevardzeitung nachgegeben.

Man kann versuchen, sie zu fragen, wie es ihr damit geht, geächtet zu werden. "Ach", sagt sie dann und macht eine wegwischende Handbewegung. Früher seien die Kämpfe bei den Grünen doch viel härter gewesen. Sie erinnere sich noch so gut an den Parteitag in Bielefeld 1999, als so viel Hass in der Luft gelegen habe, dass sie es auf ihrem Platz, vorn links an der Bühne, nicht mehr ausgehalten habe. Sie musste nach hinten gehen. Kurz darauf flog Joschka Fischer ein Farbbeutel an den Kopf.

"Dagegen", sagt Peter, "sind die Streitigkeiten heute doch nur halb so wild. Dar- an habe ich mich gewöhnt."

Kann man das? Sich an Demütigungen gewöhnen?

An einem Abend Anfang April betritt Peter das Rathaus von Bensberg, um sich über die neuen, energiesparenden Laternen der Stadt zu informieren. Sie ist gut gelaunt. Aus Berlin weg zu sein ist der Teil ihres Jobs, den sie am meisten mag. Peter stellt sich als Erste vor, dann ihr Büroleiter und dann ein Angestellter der Stadt.

Der erzählt, dass sein Bruder auch bei den Grünen sei. Am Morgen habe er ihn eigens angerufen, um ihm zu erzählen, dass er abends die Parteichefin treffe.

"Die ist nicht meine Chefin", habe der Bruder nur geantwortet.

Während alle im Raum lachen, erstarrt Peter. Ihr Blick wandert hektisch umher, sie prüft, ob die Journalisten zu ihren Stiften greifen, sucht den Augenkontakt zu ihrem Büroleiter. Was tun?

Gut eine Viertelstunde später, es geht längst um etwas anderes, ergreift Peter noch einmal das Wort. "Was ich noch sagen wollte," sagt sie plötzlich und beginnt dann einen komplizierten Vortrag, dass die Grünen ja früher gar keine Chefs hatten, sondern nur Parteisprecher, das habe der Bruder doch bestimmt gemeint. Als sie irgendwann selbst sieht, dass niemand im Saal versteht, worüber sie da eigentlich redet, verstummt sie mitten im Satz.

Seit Peter Parteivorsitzende ist, wird sie ständig von der Angst geplagt, einen Fehler zu machen. Als sich die Gruppe nach dem Besuch des Bensberger Rathauses auf den Weg zu den Laternen macht, bietet ein Strommanager Peter eine Mitfahrt in seiner Limousine an. Der Mann freut sich ehrlich, Peter zu treffen. Am Ende bittet er um ein Foto, sie, er und der Wagen.

"Ist das denn ein Elektroauto?", fragt Peter.

"Nein", sagt er und erklärt ausführlich, um welches neues Mercedes-Modell es sich handelt.

"Dann lieber nicht", sagt Peter.

Er bettelt, aber sie bleibt hart. Nein, nein, das gehe nicht, Foto nur vor einem Elektroauto.

Als der Shitstorm nach Köln über sie hinwegfegt, verteidigt sich Peter nicht etwa, sondern sucht die Schuld bei sich: "Es tut mir leid, dass meine Äußerungen durch Verkürzung in eine Schieflage geraten sind. Ich hätte abwarten sollen, bis weitere Informationen vorliegen."

Es braucht vier Gesprächsanläufe an vier unterschiedlichen Tagen, bis Simone Peter das erste Mal durchscheinen lässt, wie sehr der Hass sie getroffen hat. Sie spricht von Wut über die "Rheinische Post", die aus ihren Worten die Schlagzeile "Simone Peter wirft Polizei Rassismus vor" gemacht habe. Wut auch über den Versuch, sie zu de- montieren. Sie schweigt einen Moment, fügt dann hinzu: "Damit meine ich vor allem den politischen Gegner."

Tagelang sitzt sie mit dem Laptop zu Hause auf dem Sofa und liest jeden Kommentar, jede Nachricht, jede Mail. Ein Mitarbeiter muss sie irgendwann zwingen, nicht mehr in ihr Postfach zu gucken. Aber als "Bild" die Kampagne "Dumm, dümmer, Grüfri" startet, geht sie mit der Zeitung in der Hand zu ihrem Mann. Eigentlich behelligt sie ihn nie mit Politik, das ist die unausgesprochene Abmachung. Er kümmert sich unter der Woche um ihren elfjährigen Sohn, da will sie ihm nicht auch noch ihre Berliner Probleme aufhalsen. Aber zum ersten Mal in ihrer Zeit als Parteivorsitzende ist sie sich unsicher, ob sie es noch schaffen wird, die Fassade aufrechtzuerhalten.

Am 6. Januar 2017 findet der Neujahrsempfang der Oberbürgermeisterin von Saarbrücken statt. Eigentlich geht Peter jedes Jahr hin. Doch dieses Mal überlegt sie. "Tut mir das gut, oder begebe ich mich damit in die Höhle des Löwen?" Peter greift zum Telefon und ruft einen guten Freund an, Kajo Breuer, den ehemaligen Bürgermeister von Saarbrücken: "Sag mal, gehst du da hin?" Sie treffen sich im Foyer, damit Peter sich nicht allein unter die Leute mischen muss. Aber dann stürmen sofort alle auf sie zu, der Abend, so erinnert sich Peter, wird zu einer einzigen Solidaritätsadresse. Er habe ihr Kraft gegeben, sich ein paar Tage später auch in Berlin zu zeigen.

Mitte Mai sitzt Peter auf dem Beifahrersitz eines Mietwagens, ihr Büroleiter steuert ihn. Fröhlich zeigt sie aus dem Fenster, zu jeder Straße, jedem Haus hier in Saarbrücken kann sie eine Geschichte erzählen.

Am Wochenende warten hier ihr Mann und ihr Sohn auf sie, auf dem Schreibtisch in ihrem Haus liegen all die freundlichen Artikel, die über Peter erschienen sind, als sie noch Umweltministerin im Saarland war. "Ein Riesenstapel", sagt sie.

Sie dirigiert ihren Büroleiter auf eine Landstraße, es dauert 20 Minuten, dann hält der Wagen vor einem schlichten Einfamilienhaus in einer ruhigen Straße in Dillingen. Peter steigt aus und geht auf die Haustür zu. Hier ist sie aufgewachsen. Ein alter Mann, Anfang neunzig, macht die Tür auf.

"Hallo, Papa." – "Simone!"

Rudi Peter strahlt.

Sie umarmen sich, dann setzen sie sich in den Garten. In der Luft liegt der leichte Schwefelgeruch, der von der Dillinger Hütte herüberströmt.

Ihr Vater ist oft die letzte Person, mit der Peter abends spricht. Sie reden viel über Politik, das war schon immer so. Vater Rudi, SPD-Mitglied, war langjähriger Vorsitzender der Zukunftswerkstatt Saar. Mutter Brunhilde, die an den Folgen einer Demenz starb, kurz nachdem Peter Parteichefin geworden war, war mal Arbeitsministerin unter Oskar Lafontaine.

"Hier saßen wir", sagt Simone Peter und zeigt auf den Tisch. "Ich immer auf der weißen Bank. Als Kind hat mich das manchmal wahnsinnig gemacht, ich kam von der Schule, und die Brüder waren schon wieder mit den Eltern in irgendeiner politischen Diskussion vertieft."

Simone Peter sitzt zurückgelehnt in ihrem Gartenstuhl, die Sonne scheint ihr ins Gesicht. Plötzlich redet sie ganz frei davon, wie schwer der Druck des Berliner Amtes auf ihr lastet. Dass sie gelitten habe, als die Presse ihre erste Rede als Parteichefin zerriss. Sie sei doch so unendlich nervös gewesen, habe sich nicht mal getraut, den Kopf zu heben. Sie habe sich später Sprechtrainerinnen geholt und gelernt, dass es gar nicht so sehr darauf ankomme, dass ein Text perfekt sei. Viel wichtiger seien die Gefühle, die man vermittle. Sie wüsste auch nicht, warum ihr das oft noch nicht gelinge.

Vater Rudi hört seiner Tochter lange schweigend zu. Dann lehnt er sich vor und sagt mit einer ganz sanften, behutsamen Stimme:

"Du wirst niemals eine Claudia Roth sein. Du wirst niemals eine Sahra Wagenknecht sein."

Peter sieht ihn fragend an. Er fährt fort: "Bei denen hat man sofort den Eindruck, die können es, die können Menschen im großen Umfang beeinflussen. Das wird, glaube ich, nicht deine Rolle sein."

Peter schaut auf den Tisch, trinkt einen Schluck aus ihrer Apfelschorle.

"Mir ist aufgefallen", sagt Vater Rudi, "dass du die Leute sehr ansprichst, wenn du mit ihnen persönlich in einem kleinen Kreis diskutierst."

"Mmh", sagt Peter.

"Und dann merken die Leute," sagt ihr Vater, "jawohl, die ist authentisch. Aber das wirkt nur in dem kleinen Kreis. Das wirkt nicht im großen Kreis. Im großen Kreis wirkt der Star. Der, der überzeugen kann."

"Ja aber ...", fängt Peter an. Der Cem habe ja auch unglaublich an sich gearbeitet, um diese Reden zu halten, die er jetzt hält. "Es geht darum, was über das Lernen herausgeht", sagt Rudi Peter. "Was im Talent liegt. Das kann man nicht nur üben."

An diesem Abend wird Simone Peter ihren Vater nicht anrufen, sondern er sie. Er sei ganz aufgeregt gewesen, habe sich Sorgen gemacht, ob er etwas Falsches gesagt habe, erzählt Peter einen Tag später. Sie wird ihn dann beruhigen. Alles gut, Papa.

Als Mitte Juni auf der Bundesdelegiertenkonferenz im Berliner Velodrom endlich der Satz ertönt, auf den Simone Peter seit Stunden wartet, steht sie längst und hält das Manuskript in der Hand.

"Simone, die Bühne gehört dir."

Sie geht ans Pult, es ist ihr zu hoch. Sie sagt, sie sei leider keine 1,90 Meter groß.

Sie lacht. Als niemand im Saal mitlacht, gefriert ihr Gesicht. Sie legt die Hände links und rechts ans Pult, stellt den linken Fuß einen Schritt nach vorn und beginnt.

Die Rede holpert erst, sie ist voller schiefer Sprachbilder, aber doch ist es eine andere Rede als sonst, eine wütende. Simone Peter will kämpfen. Irgendwann kommt die Rede auf Köln zu sprechen, auf den Hass gegen sie.

Sie lässt das Verständnis für ihre Kritiker beiseite, sagt, die Grünen sollten "auch, bitte schön, nachfragen dürfen", ob ein Einsatzkonzept funktioniert. "Was sind sonst Demokratie und Rechtsstaat wert?" Als sie fertig ist, überblickt sie noch einmal den Saal, von links nach rechts, wie eine Löwin. Sie lacht nicht. Sie verzieht keine Miene. Sie dreht sich mit einem Ruck um und geht.

Für einen ganz kurzen Moment ist diese Rede ein Sieg, im Velodrom herrscht eine merkwürdige Mischung aus Stille und Verlegenheit. Dann wird Hans-Christian Ströbele verabschiedet, das grüne Urgestein, und schon denkt niemand mehr an die Parteichefin.

"War es das jetzt?", fragt Simone Peter am Ende eines langen Gesprächs. Eine Frage noch. Halten Sie sich für eine erfolgreiche Parteivorsitzende?

Ja, sagt sie, ohne zu überlegen, und lehnt sich souverän zurück. Dann muss sie lachen.
"Ja. Wirklich."