FEIND IM KIND
// Berliner Zeitung

Liliane gehört zu den Tausenden von Vergewaltigungskindern Ruandas. Ihr Leben lang schon kämpft sie um die Anerkennung ihrer Mutter. Doch kann die sie überhaupt lieben?


Manchmal blickt Liliane, 20 Jahre ist sie alt, an sich herunter und schaut den stämmigen Körper an. Die großen Oberschenkel, die breiten Hüften, den Bauch. In ihrer Familie sind sie alle von zierlicher Statur. Nur sie nicht. Sie weiß, dass sie das von ihm hat. Sie weiß nicht, ob auch ihre Mutter an ihn denkt, wenn sie die Tochter ansieht.

Wenn Brigitte ihre Tochter ansieht, dann sieht sie nicht den Vater. Aber sie sieht das durchlebte Leid, des Kindes wegen. Die Ausgrenzung, die Sprüche, die Zukunft, und wie sie hätte sein können. Der Anblick ihrer Tochter macht sie traurig. Vielleicht ist es deshalb so still auf dem kleinen Hinterhof im ruandischen Dorf Rugwiro. Keine fünf Schritte trennen Mutter und Tochter, doch über Stunden reden sie kein Wort. Während Liliane kocht, setzt sich Brigitte auf die kleine Mauer vor dem Haus, der Blick geht ins Leere. Liliane schaut zu ihr, scheint einen Moment zu überlegen, ob sie sie ansprechen soll, verteilt dann das Essen auf zwei Teller und geht ins Haus.

Die Stille, die gab es schon immer. Aber erst an einem Tag im Jahr 2008 hat Liliane verstanden, warum. Damals ist sie 13 Jahre alt, und die Nachbarskinder rufen ihr etwas zu. Sie macht auf dem Absatz kehrt und läuft zu ihrem Lehmhaus. Auf dem Bett sitzt Brigitte. „Mama, die Nachbarn sagen, ich sei ein uneheliches Kind“, sagt Liliane. „Was ist das? Mama, sie sagen, du seist vergewaltigt worden. Was heißt das?“

Brigitte herrscht sie an, doch Liliane beharrt auf Antworten. Brigitte hat noch nie darüber gesprochen. Es war schlicht allen klar, was passiert war, als die damals 16-Jährige nach dem Genozid verstört wieder auftauchte. Wer hält sich mit Details auf in einer Zeit, in der Traumata zur Normalität werden?

Liliane fragte schon als Kind nach ihrem Vater. Brigitte redete sich heraus, erzählte ihr mal, dass ihr Großvater ihr Vater sei, mal, dass er tot sei, dann wiederum lachte sie die Tochter aus oder drehte sich weg. Doch in jenem Moment, als sie auf dem Bett sitzt, weiß Brigitte, dass sich Liliane nicht wieder abspeisen lässt. Nach zwei Tagen beginnt sie zu erzählen.

Es war im April 1994, als in Ruanda die Hutu, eine ethnische Gruppe, die Tutsi jagten. In hundert Tagen ermordeten sie 800 000 Menschen. „Kakerlaken“ nannten sie die anderen. Bäume, die es zu fällen galt. Schlangen, Affen, Ungeziefer.

Brigitte,16 Jahre alt und Tutsi, war mit ihrem Großvater und einer Schwester daheim, als sich die Milizen dem Dorf näherten. Sie faltete gerade die Hände zum Tischgebet, da hörte sie die Stimmen. Großvater nahm einen Stuhl und setzte sich in den Hauseingang, die Mädchen links und rechts an seiner Seite. Brigitte sah noch, wie ein Mann auf ihren Großvater zuging, wie der Großvater auf die Knie sank und Blut aus seinem Bauch floss. Dann wurde ihre Schwester weggezerrt.

Brigitte blieb bei dem Mann, der ihren Großvater erstochen hatte. Er zog sie in einen Busch und nahm das mit Blut bedeckte Messer, um ihr Kleid und Unterwäsche aufzuschneiden. Es war ihr erstes Mal.

Liliane wird unruhig, als sie ihrer Mutter zuhört. Sie verlässt wortlos den Raum. In ihrem Kopf nur Fragen: Was, wenn Mama stirbt? Wenn sie heiratet? Wenn der neue Mann mich nicht akzeptiert? Was, wenn alle herausfinden, wer ich wirklich bin? Du bist nicht allein, sagt sie sich zur Beruhigung. In Ruanda wird die Zahl der durch sexuelle Gewalt gezeugten Kinder zur Zeit des Völkermordes auf 2000 bis 5000 geschätzt. Liliane weiß das aus der Schule. Du bist nicht allein.

Ein Kind, das erfährt, dass es nur lebt, weil die Mutter vergewaltigt wurde, bleibt nicht das Kind, das es war. Die Wissenschaftlerinnen Zala Volcic und Karmen Erjavec haben 2010 in einer Studie 19 Mädchen aus Bosnien und Herzegowina, alle durch sexuelle Gewalt im Krieg gezeugt, interviewt und ihre Beschreibungen nach wiederkehrenden Mustern analysiert. Die Mädchen ließen sich in drei Gruppen einteilen: Die erste identifiziert sich mit dem Begriff der „Zielscheibe“. Sie fühlt sich stigmatisiert, ist oft Opfer von Diskriminierungen durch Familie und Bekannte. Die Mädchen der zweiten Gruppe begreifen sich als Krebs der Gesellschaft; im Gegensatz zur ersten Gruppe sind sie es, die sich als abnormal empfinden – nicht die anderen. Selbsthass und Schuld zermürben sie. Nur die Mädchen der dritten Gruppe sehen in ihrem Leben einen Sinn. Sie wollen Friedenskämpfer sein. Weil sie von beiden Ethnien abstammen, empfinden sie sich als personifizierte Überwindung des Krieges. Die Mädchen verehren ihre Mütter wie Idole, als starke Frauen, die den Krieg hinter sich gelassen haben.

Liliane versucht, die Gedanken an den Vater zu verdrängen. Wie die Mädchen der dritten Gruppe widmet sie inzwischen alle Aufmerksamkeit der Mutter. Sie versteht endlich, warum Brigitte oft traurig ist. Sie wisse, sagt sie heute, dass viele Kinder, die wie sie seien, abgetrieben, abgegeben oder getötet werden. Ihre Mutter habe das nicht getan. Sie habe sie, ihr Kind, bekommen. Liliane lächelt. „Das ist doch ein Beweis, dass sie mich liebt, oder?“

Brigitte zögert lange, wenn man sie fragt, ob sie ihre Tochter liebt. Sie will ihre Worte nicht zu harsch klingen lassen. „Die anderen glauben, ich hasse Liliane“, sagt sie. „Das stimmt nicht. Aber lieben? Ich wurde doch selbst nie geliebt, wie soll ich nun dieses Kind lieben?“ Nach der Geburt sah sie das Kind mit Befremden, ließ es vor Hunger schreien, wollte es nicht berühren. Brigittes Mutter musste ihr die Bluse runterreißen, Brigittes linke Brust in die eine Hand, das Baby in die andere nehmen, damit es trinken konnte.

„Dass Brigitte ihre Tochter wie einen Fremdkörper behandelt, kann das Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) sein“, sagt Philipp Kuwert, Psychiater an der Uni Greifswald und Mitglied einer Forschergruppe über sexuelle Gewalt im Krieg. Depressionen, Gefühlstaubheit, Flashbacks, aber auch die Angst, über das traumatische Ereignis zu sprechen, seien typisch dafür, sagt er.

Etwa die Hälfte aller vergewaltigter Frauen leidet unter PTBS, kein anderes Trauma ist so krankheitsverursachend. Während des ersten Jahres danach liegen die Chancen, dass die Symptome zurückgehen, noch hoch. „Es ist die Zeit des Selbstheilungsprozesses“, sagt Kuwert. Aber für eine Frau wie Brigitte, die sich keine Therapie leisten kann, ist eine Besserung unwahrscheinlich.

Mit dem Heranwachsen zeigt Liliane Ähnlichkeiten mit den Mädchen aus der zweiten Gruppe. Sie fühlt sich anders als die Kinder im Dorf, findet keine Vertrauten, wird auch mit ihrer Mutter nie wieder darüber reden können. Als sie hört, dass Verwandte sie „Ikinyendaro“ nennen – das Kind, das im Busch geboren wurde –, denkt sie: Die haben recht.

Vor einem Jahr wacht Liliane in der Psychiatrie auf. Die Ärztin erzählt ihr, man habe sie bewusstlos auf der Toilette gefunden. Die Ärztin sagt: Als du aufgewacht bist, hast du angefangen zu schreien. Du hast auf deine Mutter, Brigitte, eingeschlagen. Dann bist du weggerannt.
Nyamdinea, die Ärztin, ist eine rundliche, 36-jährige Frau, die viel lacht und Liliane manchmal im Vorbeigehen über den Kopf streichelt. Ihr erzählt Liliane von ihrem Vater.

Nyamdinea fragt Liliane, was sie ihm sagen würde, wenn er vor ihrer Tür stünde. Und Liliane antwortet, dass sie – erstens – fragen würde, warum er Mama diese schlimmen Dinge antat. Zweitens: Wie er Menschen töten konnte. Und zuletzt, ob er sich erst jetzt daran erinnert, dass sie, seine Tochter, existiert.

Nyamdinea weint. Sie sei der erste Fall dieser Art, den sie kennenlerne, sagt sie, als Liliane sie irritiert mustert. „Was du erlebt hast, mein Kind, das ist furchtbar.“ Wer nicht über sein Trauma redet, sagt der Psychiater Philipp Kuwert, weiß meist gar nicht, dass er eine Berechtigung hat zu leiden. „Die Anerkennung des Leids durch Dritte, wie Liliane sie hier durch Nyamdinea erfahren hat, ist ein wichtiger Schritt.“

Einige Monate verbringt Liliane in der Klinik; dann sitzt sie wieder in ihrem Dorf am Kopfende eines langen Tisches in der Kirche. Sie ringt sich zu einem schüchternen Lächeln durch, als sie sagt: „Seit jenem Tag mit Nyamdinea ist die Belastung weg.“ Sie nickt bekräftigend und sagt, dass sie nun nicht mehr über die Vergangenheit reden wolle und meint damit eigentlich ihren Vater.

In zwei Jahren, wenn sie ihren Schulabschluss hat, will Liliane weggehen aus Rugwiro. Sie möchte in Tansania arbeiten, wo Ethnien keine Rolle spielen. Am liebsten in der Tourismusbranche, damit all die fremden Menschen durch sie ein anderes Bild Ruandas bekommen können.
Irgendwann will sie anschließend wieder heimkommen zu ihrer Mutter, sagt Liliane. Dann werden sie die ganze Familie einladen, es wird gute Gespräche und Unmengen an Essen geben. Und sie wird ihrer Mutter etwas schenken: etwas so Besonderes, dass sie endlich sagt, sie habe eine ehrenhafte Tochter geboren.

Am folgenden Vormittag nimmt Brigitte, ihre Mutter, am selben langen Tisch in der Dorfkirche Platz. „Zurzeit sitze ich nur da und versuche zu vergessen. Ich sehe, dass sie mich braucht, aber ich schaffe es nicht, auf ihre Bedürfnisse zu antworten“, sagt sie. „Alles, was ich für sie empfinden kann, ist Mitleid.“ Irgendwann wolle sie mit Liliane beisammensitzen und endlich reden. Über den ganzen Weg, die Armut, die Probleme, über die Liebe, die fehlt.

Liliane kommt nach der Schule an der Kirche vorbei, um ihre Mutter abzuholen. Ohne sich angeschaut zu haben, verlassen Mutter und Tochter den Raum. Sie gehen durch das rostige Metalltor auf die Straße, die Ältere mit leichtem und doch schlurfendem Schritt, die Jüngere etwas stampfend. Wieder wirft Liliane ihrer Mutter einen verstohlenen Blick zu – als überlege sie, sie anzusprechen. Wieder entscheidet sie sich dagegen.