Beim Michelangelo des Fleisches
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Als Kind liebte er Rinderfüße und Pansen, dann wollte er Tierarzt werden. Heute ist Dario Cecchini Metzger und weltberühmt. Ein Gespräch über die Würde von Steak und Wurst



Zu Beginn des Jahrtausends, im Jahr 2001, begann eine für die Geschichte der toskanischen Küche düstere Phase. Die mucca pazza, der Rinderwahn, veranlasste die Europäische Union, den Verkauf von rohem Fleisch am Wirbelsäulenknochen zu verbieten, wodurch den Toskanern ihr Allerheiligstes genommen wurde: die Bistecca alla Fiorentina, ein Steak, so groß wie ein Schuhkarton, so blutig, als sei es nie gegrillt geworden.

Dies war der Moment, als die Welt Dario Cecchini kennenlernte, den Michelangelo des Fleisches, wie sie ihn heute nennen, den Gott der Bistecca, den Maestro. In einem an Theatralik schwer zu überbietenden Trauermarsch verabschiedete der damals 45-jährige Metzger die Bistecca alla Fiorentina. Er bettete die letzten Steaks, die er noch verkaufen durfte, in einen mit rotem Samt ausgelegten Sarg und ließ diesen von der Menge durch sein Heimatdorf Panzano im Chianti tragen. Danach wurden die Steaks zugunsten eines Kinderkrankenhauses versteigert. Ein Spektakel, dessen Bilder um die Welt gingen.

22 Jahre später erinnert nur eine Gedenktafel an der Fassade von Cecchinis Metzgerei an die kulinarisch düstere Zeit. Die Bistecca alla Fiorentina ist schon lange in die toskanische Küche zurückgekehrt. Cecchinis Metzgerei, die Antica Macelleria Cecchini, ist zum Mekka für Fleischesser und Gourmets aus aller Welt geworden – und Dario Cecchini, grauer als damals, aber nicht weniger exzentrisch, zu einem der berühmtesten Metzger überhaupt, zumindest laut New York Times. Neben der kleinen, urigen Metzgerei, die seit mehr als zwei Jahrhunderten in Familienbesitz ist, hat er zwei Restaurants eröffnet, die Officina della Bistecca, im ersten Stock der Metzgerei, in der es die besten Steaks geben soll, und das Solociccia auf der anderen Straßenseite, das alles außer Bistecca anbietet.

An diesem Morgen Ende Februar sind die Restaurants noch geschlossen. Cecchini, ein großer Mann mit liebevollen Augen, zerlegt gerade Fleisch. "BEN-VE-NU-TA!", donnert er, als er den Besuch bemerkt, und bittet gleich zu sich. Während Kunden vor allem Fleisch und Cecchini sehen, sieht Cecchini von seinem Tresen aus ein Gemälde des heiligen Sebastian, dessen Brust von einem Pfeil durchbohrt wird, ein paar Bücher und eine Büste von Dante Alighieri. Die Poesie sei seine Religion, erklärt er. Neben dem Schneidebrett deponiert er stets eine zerlesene Ausgabe der Göttlichen Komödie, griffbereit, um seinen Kunden bei Bedarf daraus vorzulesen.

Als eine Gruppe Florentiner die Metzgerei betritt, wendet er sich ihnen zu. "Buongiorno, buongiorno, wollen Sie einen Wein? Etwas Brot mit Lardo?" Die Gruppe inspiziert die Theke, eine Frau zeigt auf das Tatar: ob er ihr etwas davon einpacken könne? Dann würde sie es später im Auto probieren. Cecchini, gerade noch bestens gelaunt, verdreht die Augen. "Einpacken, um es im Auto zu probieren?", dröhnt er. "Ganz sicher nicht!" Er schnaubt. Es folgt ein Wortgefecht, bei dem als Außenstehende schwer zu erkennen ist, wie ernst Cecchinis Wut ist. Noch lacht die Gruppe, Cecchini aber dreht sich weg, schüttelt den Kopf, sagt dann zum Mann neben der Frau: "Bitte erklär deiner Schwester, dass das nicht in Ordnung ist." So könne man sich nicht benehmen. Am Ende muss die Gruppe die Metzgerei ohne Tatar verlassen.

Als ich frage, was genau ihn so verärgert habe, schlägt er die Hände über dem Kopf zusammen und wirft mir einen enttäuschten Blick zu, als könne er nicht glauben, dass das nicht offensichtlich sei.

Dario Cecchini: Tatar isst man doch nicht im Auto. Das ist doch keine Tüte mit Nüsschen. Wenn du Fleisch isst, ehrst du das Opfer des Tieres. Das ist etwas so Wertvolles. Das ist nicht dasselbe, wie eine Karotte zu essen. Du brauchst Respekt! Es ist ein Privileg, Fleisch zu essen!

Er bittet, ihn für fünf Minuten zu entschuldigen, und verschwindet kopfschüttelnd in der Küche. Als er wiederkommt, wischt er sich die Hände an der Schürze ab, strahlt wieder und fragt, ob wir nicht oben in der Officina della Bistecca sprechen wollen, dort sei es ruhiger, sie sei heute geschlossen. Auf dem Weg die Treppe hinauf erzählt er, dass ihm unser Interview sehr wichtig sei, weil er es zu Ehren eines verstorbenen deutschen Freundes geben wolle. Dieser habe auch in Panzano gelebt und ihm viel übers Essen beigebracht: Theo.

Cecchini: Theo war verliebt in unser kleines Dorf. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof in Panzano, und auf dem Grabstein steht nicht Theo Löffler, sondern Theo von Panzano. Er war besonders, wirklich.

ZEITmagazin: Was hat er Ihnen beigebracht?

Cecchini: Die Liebe zum Essen. Wir haben viel Zeit damit verbracht, gemeinsam zu kochen und neue Dinge kennenzulernen. Er war ein wahrer Gourmet, immer auf der Suche nach den allerbesten Produkten. Er hatte sich in Panzano eine wunderbare Küche gebaut: die Küche der Träume. Sie war ausgestattet mit den besten Messern, dem besten Herd und den besten Pfannen. Es war der Traum eines jeden Kochs. Einmal fragte ich ihn: Theo, wie sieht ein typisches Sonntagsessen einer Familie in Stuttgart aus? Und er ist losgezogen und hat in Deutschland nur die besten Zutaten zusammengesucht für ein Mittagessen, das er dann kochte, für mich, an einem Sonntag, um es mir zu zeigen.

ZEITmagazin: Was hat er Ihnen serviert?

Cecchini: Ich erinnere mich an Kartoffelsalat und an vier Sorten Würstchen, die er beim besten Metzger dafür gekauft hatte. Und es gab noch etwas, das ich liebe ... Ich weiß nicht, wie es heißt, ein Brot aus Leber: Levar ... Lever ...

ZEITmagazin: Leberkäse?

Cecchini: Ja! Das! Dazu Brezeln und den guten Senf mit Körnern. Und er hatte natürlich die passenden Biere gekauft. Für mich ist das Liebe.

ZEITmagazin: Sie haben gesagt, wer Fleisch esse, müsse das Opfer des Tieres ehren. Was meinen Sie damit?

Cecchini: Fleischfresser zu sein ist eine Entscheidung, und es ist auch eine Verantwortung. Ein guter Metzger respektiert die Tiere. Er sorgt dafür, dass sie das bestmögliche Leben haben und einen möglichst schmerzlosen, möglichst ehrlichen Tod. Ich sage meinen Mitarbeitern, sie sollen immer daran denken, dass jede Sehne, jeder Muskel, jedes Stück Fett Teil eines Lebens war. Wenn ich auf Instagram bin oder auf YouTube und sehe, wie die Leute da mit Fleisch umgehen, wie sie es herumschleudern, auf eine Seite knallen, dann auf die andere, ist das schrecklich für mich. Da ist kein Respekt.

ZEITmagazin: Sie wurden berühmt, als Sie die Bistecca alla Fiorentina zu Grabe trugen. Warum ist sie so wichtig für die Toskana?

Cecchini: Die Bistecca alla Fiorentina ist ein Symbol. Sie steht für ein Festmahl, bei dem das beste Stück auf den Tisch gestellt wird. Für mich persönlich ist die Bistecca nicht das beste Stück, alle Stücke sind gut, aber ich respektiere das Symbol. Auch wenn es von Touristen überstrapaziert wird.

ZEITmagazin: Als ich gestern durch die Innenstadt von Florenz lief, sah man fast in jedem Restaurantfenster eine Vitrine mit ausgestellten Bisteccas.

Cecchini: Ja, mir gefällt das nicht. Ich nenne sie Rotlicht-Vitrinen. Sie erinnern mich an die Straße in Amsterdam, wo die Frauen in den Fenstern stehen. Symbole sollten heilig sein. Man kann nicht alle Straßen mit ihnen zupflastern.

ZEITmagazin: Ich bin in Florenz groß geworden. Als Kind wollte ich unbedingt mal eine Bistecca alla Fiorentina essen, aber meine Mutter hat mich nie eine bestellen lassen. Sie sagte, die Bistecca alla Fiorentina sei einfach zu viel für einen Menschen.

Cecchini: Sie ist auch zu viel! Und dieses Zuviel kann man einmal machen oder zweimal. Aber du kannst sie nicht wie eine Pizza bestellen, wie etwas für jeden Tag. Das ist es, was mich in Florenz so stört. Eine sehr kluge Mutter. Müssen Sie ihr ausrichten.

ZEITmagazin: Was ist das Geheimnis einer guten Bistecca alla Fiorentina?

Cecchini: Sie muss mindestens zwei Finger dick sein. Zwei meiner Finger, das sind drei von Ihren. Insgesamt mindestens 1,5 Kilo Fleisch. Und es muss gutes Fleisch von einem guten Metzger sein, mit dem Knochen in der Mitte, das Filet auf der einen Seite und das Lendenstück auf der anderen. Zum Zeitpunkt der Zubereitung sollte sie seit sechs Stunden raus aus dem Kühlschrank sein. Sie muss auf Temperatur sein. Man macht nicht den Kühlschrank auf und fragt: Liebes, was essen wir heute?

ZEITmagazin: Nicht?

Cecchini: Nein.

ZEITmagazin: Warum nicht?

Cecchini: Weil Fleisch Kälte verlieren muss, genauso wie es sie aufgenommen hat.

ZEITmagazin: Gilt das für jedes Fleisch?

Cecchini: Ja.

ZEITmagazin: Wie lange dauert das bei einer Hühnerbrust?

Cecchini: Nicht lange, eine halbe Stunde vielleicht. Aber die Bistecca ist nun mal dick. Um sie zu grillen, braucht man eine schöne Holzglut. Ich empfehle ein Glas Rotwein für den Grillmeister oder die Grillmeisterin. Und dann acht Minuten pro Seite.

ZEITmagazin: Salz? Pfeffer?

Cecchini: Nur Fleisch und Feuer. Auf den Tisch stelle ich dann Kräutersalz und Olivenöl. Ich selbst salze meine Bistecca nie. Wenn das Fleisch gut ist, hat es genug Geschmack.

ZEITmagazin: Stimmt es, dass Elton John damals eines der letzten Steaks für 4700 Euro ersteigert hat?

Cecchini: Das stimmt.

ZEITmagazin: Wie ist er so?

Cecchini: Ich habe ihn nicht getroffen, wir haben telefoniert. Er schien sehr freundlich, nur verstehe ich kein Englisch.

ZEITmagazin: Sie sind in einer Metzgerfamilie groß geworden.

Cecchini: Ich wurde im Haus gegenüber geboren, dort, wo heute mein Restaurant Solociccia ist. Ich hatte eine extrem glückliche Kindheit. Der Babbo und die Mamma arbeiteten in der Metzgerei, und die Nonna kochte.

ZEITmagazin: Was kochte die Nonna?

Cecchini: Die Nonna kochte all das, was die Kunden nicht kaufen wollten. Ich bin aufgewachsen, ohne je eine Bistecca gegessen zu haben. Bei uns gab es Pansen, Füße, Blut, Köpfe. Als Kind war ich überzeugt, dass in der Metzgerei nur fantastische Tierwesen verarbeitet werden, mit vier Köpfen, 20 Füßen und sechs Schwänzen, weil wir immer nur die aßen.

ZEITmagazin: Was schmeckte Ihnen am besten?

Cecchini: Gekochte Rinderknie.

ZEITmagazin: Wie kocht man die?

Cecchini: Mit Sellerie, Karotten und Zwiebeln. Knie haben ein Fleisch, das die meisten als sehr zäh empfinden. Aber nur, weil sie sich nicht die Zeit nehmen, es lang genug zu kochen.

ZEITmagazin: Wie lang ist lang genug?

Cecchini: Vier Stunden. Was gar nicht so lang ist, ich koche anderes viel länger. Das Fleisch wird dann in Stücke geschnitten und lauwarm mit einem Salat aus rohen Sellerie, Karotten und Zwiebeln à la Julienne, also in dünne Streifen geschnitten, und mit einer Tasse Brühe serviert.

ZEITmagazin: Beschreiben Sie mal den Geschmack.

Cecchini: Der Geschmack ist beruhigend. Das Fleisch schmilzt im Mund, es ist ganz zart. Da ist dieser Kontrast zwischen der Frische des knackigen Gemüses und der Wärme des Fleisches. Es ist immer noch mein Lieblingsgericht.

ZEITmagazin: Wollten Sie eigentlich immer Metzger werden?

Cecchini: Nein, absolut nicht.

ZEITmagazin: Was denn dann?

Cecchini: Ich wollte Tierarzt werden und mich um Tiere kümmern. Die Leute, mit denen ich als Kind meine Zeit verbrachte, waren die Bauern, von denen mein Vater die Tiere kaufte. Das sind meine Leute, auch heute noch. Ich wollte ihr Leben leben, und der Tierarzt ist der Arzt der Bauern, nicht nur der Tiere, auch der Menschen. Ich studierte sogar Tiermedizin in Siena. Aber wenn man in einer Traditionsfamilie aufwächst, ist das Leben nicht frei. Meine Familie macht diese Arbeit seit 250 Jahren, ich bin die achte Generation. Wenn man in so eine Familie geboren wird, ist man gezwungen weiterzumachen. Als erst meine Mutter starb und später mein Vater, musste ich mit 19 das Studium abbrechen.

ZEITmagazin: Was hatten Ihre Eltern?

Cecchini: Beide Krebs. Übrig blieben meine jüngere Schwester, die Nonna und ich. Wir hatten kein Geld, also habe ich die Metzgerei übernommen.

ZEITmagazin: Wie ging es Ihnen damit?

Cecchini: Es war ein Schock. Etwas von mir ist mit meinen Eltern gestorben. Ich hatte keine Träume mehr. Die ersten Jahre als Metzger waren sehr schwer. Ich erinnere mich, wie ich ständig meine Finger zerschnitten habe. Ich hatte richtig Angst vor den Messern. Die kleine Gemeinde von Panzano hat mich gerettet. Obwohl ich keine Ahnung von meiner Arbeit hatte, sind sie weiter in die Metzgerei gekommen. Sie blieben Kunden aus Zuneigung.

ZEITmagazin: Wie lernt man, zu lieben, was man nicht machen will?

Cecchini: Man versucht, Licht zu sehen, wo überall Schatten ist. Und: Man versucht, seinen eigenen Weg zu finden. Die Wahrheit ist doch, dass wir nie wirklich frei wählen können. Wir sind alle an Dinge gebunden. Selbst wenn man das Studium beendet, das man machen wollte, kann es sein, dass man später einen Job annehmen muss, der nicht dem ursprünglichen Traum entspricht. Also muss man einen Weg finden, sich und anderen zu erklären, warum der eigene Traum doch in dieser Arbeit steckt. Ich will hier nicht zu sehr Philosoph sein, aber man braucht die Erleuchtung, dass ein Beruf kein Ende ist, kein Ziel. Ein Beruf ist ein Mittel, um man selbst zu sein. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich mache?

ZEITmagazin: Doch, machen Sie.

Cecchini: Das ist auch, warum ich dieses Gemälde, meine Musik und meine Bücher in der Metzgerei brauche. Ich brauche alles, von dem ich weiß, dass es meiner Seele guttut.

ZEITmagazin: 2006 haben Sie Ihr erstes Restaurant eröffnet: das Solociccia. Warum noch zusätzlich die Restaurants?

Cecchini: Die Restaurants gehen auf meine Nonna zurück. Ich wollte nicht, dass ihre Küche endet. Ich habe immer versucht, meinen Kunden Nachhaltigkeit nahezubringen. Heute sprechen alle davon, aber vor 40 Jahren war nur wichtig, genügend Geld zu haben, um sich das beste Stück Fleisch zu kaufen. Es gibt aber kein bestes Stück, alle Stücke sind gut, wenn sie nur richtig gekocht werden. Wir können nicht nur das Filet und die Bistecca nehmen, den Rest wegwerfen und sagen, das ist nicht mein Problem. Wir müssen alles wertschätzen. Aber von meinem Metzgertresen aus gelang es mir nicht, die Menschen zu überzeugen. Ich musste es auf den Tisch bringen, damit sie verstehen.

ZEITmagazin: Im Solociccia kommen, bis auf Steak und Filet, alle möglichen Teile des Tieres auf den Teller: Eingeweide, Knie, Schwanz. Wie reagieren die Menschen, wenn sie erfahren, was sie gleich essen werden?

Cecchini: Ich versuche es erst nach dem Essen zu erklären, damit sie keine Vorurteile haben. Ich will, dass sie nur den Geschmack wahrnehmen. Einmal, als ich einem ausländischen Kunden erklärt habe, dass das, was er gerade gegessen hatte, gekochte Knie waren, war er absolut ungläubig und sagte: "Knie habe ich für meinen Hund gekauft."

ZEITmagazin: Welches Stück Fleisch eignet sich für welche Zubereitungsart? Was gehört gebraten, was gekocht?

Cecchini: Grundsätzlich gibt es zwei Arten, Fleisch zu braten: einmal schnell, wie wir es im Westen oft machen, bei hoher Temperatur, auf dem Grill oder in der Pfanne. Dafür eignen sich Steaks, Filets und alle Teile des Schenkels. Man kann aber auch langsam braten, über mehrere Stunden bei niedriger Temperatur. Dafür sind Bauch und Rippen gut. Gekocht liebe ich die Muskeln der Vorderpartie und der Schultern, die Knie und die Brust. Die Brust ist das klassische Stück dafür.

ZEITmagazin: Und was mache ich mit einem Rinderfuß?

Cecchini: Rinderfüße lässt man sehr lange kochen, fünf, sechs Stunden. Traditionell wurden Rinderfüße für Kinder gekocht, vor allem die Füße von Kälbern, weil sie so reich an Kollagen sind und das den Organismus stärkt. Ich koche sie gerne zusammen mit Pansen. Sehr lecker.

ZEITmagazin: Die Gerichte sind alle sehr simpel. Modernisieren interessiert Sie nicht?

Cecchini: Ein Metzger kocht keine Sterneküche, er kocht Stallküche. Ich suche nach dem einfachsten Rezept für jedes Stück Fleisch. Das heißt nicht, dass ein komplizierteres Rezept weniger gut ist, aber ich will, dass die Menschen meine Gerichte nachkochen können. Es gibt ja diese Köche, die einem ihre Rezepte nicht geben wollen. Bei mir ist das anders. Hat dir die Olivenöltorte geschmeckt? Hier ist das Rezept! Hat dir der Tonno del Chianti geschmeckt? Hier ist das Rezept!

ZEITmagazin: Schlachten Sie auch selbst?

Cecchini: Früher habe ich selbst geschlachtet, aber heute geht das gesetzlich nicht mehr.

ZEITmagazin: Traditionell wird in der Toskana das Fleisch des Chianina-Rinds gegessen. Ihr Fleisch kommt allerdings von einem Hof in Katalonien. Warum spanisches Fleisch?

Cecchini: Weil diese Züchter meine Werte teilen. Es ist ein kleiner Familienbetrieb im Schnee der Pyrenäen. Außerdem glaube ich nicht, dass es so was wie italienisches Fleisch oder spanisches Fleisch gibt. Die Welt der Metzger teilt sich in eine große Gruppe industrieller Metzger und eine kleine Gruppe Handwerker. Die industriellen Metzger verhalten sich überall auf der Welt gleich. Ich habe einmal einen industriellen Metzger besucht und gesehen, dass die Hölle auf Erden auch für Tiere existiert. Danach wusste ich drei Wochen nicht, ob ich meinen Beruf fortführen kann. Ich wollte kein Teil davon sein. Aber dann habe ich verstanden, dass meine Arbeit anders ist. Es tut mir weh, es schmerzt, aber das Einzige, was ich dagegen tun kann, ist, zu beweisen, dass es noch einen anderen Weg gibt.

ZEITmagazin: Wodurch unterscheiden sich Industrie und Handwerker?

Cecchini: Die Industrie produziert Fleisch, um damit Geld zu verdienen. Die Mission des Handwerkers ist, der Beste in seinem Fach zu werden und das Richtige zu tun. Auf gewisse Weise ist es eine Rückkehr in die Renaissance, als der größte Reichtum des Lebens noch nicht materieller Reichtum war, sondern Wissen.

ZEITmagazin: Was ist für Sie gute Qualität?

Cecchini: Ich will die Erde schmecken können. Jeder Geschmack muss eine eigene Identität haben, er muss wiedererkennbar sein. Mein Fleisch hat einen delikaten Geschmack, nicht stark, aber sehr harmonisch. Es ist nicht sehr fett, weil die Tiere immer draußen sind.

ZEITmagazin: Wie kann ich verantwortungsbewusst Fleisch kaufen?

Cecchini: Geh zu jemandem, der das Metzgerhandwerk beherrscht, und erklär ihm, was du mir gerade gesagt hast: Ich möchte das Richtige tun. Kannst du mir helfen, das Richtige zu tun? Das ist eine Frage, die man der Industrie nicht stellen kann. Einen guten Metzger erkennt man an den Augen, ob da Leidenschaft, ob da Herz ist.

Am späten Vormittag sammeln sich die Mittagsgäste in der kleinen Gasse zwischen Metzgerei und Solociccia. Seit Netflix Cecchini eine Folge Chef’s Table gewidmet hat, ist das Restaurant fast jeden Tag voll. Circa 50 Personen unterschiedlichster Nationen werden heute bewirtet, sie sitzen über drei Etagen verteilt, an langen Tischen. Serviert wird ein festes Menü aus Brühe, Braten, Crostini, Tatar, Knien, Eingeweiden, gegrillter Schulter und Olivenölkuchen. Gegrillt wird mitten im Saal. Die Stimmung steigt mit jedem Gang.

Ab Gang drei grölen alle, wenn Cecchini den Raum betritt. Jeder will ein Foto mit ihm. Er hält Fleischstücke in die Luft, hebt die Fäuste, ruft "Carne! Carne! Carne!" und "To beef or not to beef?". Die Meute applaudiert. Cecchini strahlt, umarmt, lacht. Zwischendurch beißt er in ein Stück rohes Fleisch.

ZEITmagazin: Warum haben Sie sich für die langen Tische entschieden?

Cecchini: In der Tradition der Toskana ist der höchste Moment des Lebens der convivio. Convivio kommt vom lateinischen cum vivere, zusammenleben. Ein convivio ist, wenn alle zusammen an einem Tisch sitzen und man nicht nur den Körper, sondern auch die Seele nährt. Und bei mir sind es Leute, die sich nicht kennen, aber am Ende alle miteinander reden. Es ist ein Festmahl. Der Wein ist für alle. Die Chianti-Butter ist für alle. Ich liebe den convivio. Man kann spüren, wie die Energie wächst. Ich glaube, dass ich eine Art Vampir bin, der sich von dieser Energie ernährt. Meine Frau fragt mich immer: Wie schaffst du es bloß, so viele Stunden zu arbeiten? Es ist die Energie der anderen, die Energie der Menschen an meinem Tisch, die Energie des Kennenlernens. Ich sauge sie auf. Sie macht mich glücklich. Noch ein Grund ist, dass ich nicht will, dass Menschen allein am Tisch sitzen. Als ich nach meiner ersten Ehe allein ins Restaurant musste, wollte ich nicht allein sitzen. Niemand sollte allein sein. Das geht nicht.

ZEITmagazin: Ich habe gelesen, Sie würden Vegetarier aus Ihrem Restaurant jagen ...

Cecchini: Ach, das stimmt doch nicht. Es kommen viele Vegetarier in mein Restaurant, auch einige Veganer. Sie kriegen dann zum Beispiel pappa al pomodoro, eine Brotsuppe. Wenn jemand entscheidet, dass er kein Fleisch essen will, respektiere ich das. Es gibt sogar Vegetarier, die in meiner Metzgerei arbeiten. Warum auch nicht? Wichtig ist, dass sie gute Arbeit machen und glücklich sind. Ich bin kein Fundamentalist. Es gibt zu viele Fundamentalisten.

ZEITmagazin: Man hört viel Wildes über Sie. Sie sollen mal 25 Kilo Salsicce, Würste, in die USA geschmuggelt haben. Ist da was dran?

Cecchini: Es war meine erste Reise ins Ausland, vor 25 Jahren. Das Four Seasons in New York brauchte Salsicce für ein Essen mit 200 Leuten. Also habe ich meinen Koffer mit Salsicce gefüllt. Und dann war ich so glücklich darüber, wie gut der Abend verlaufen war, dass ich mir um Mitternacht das Mikrofon griff und rief: Haben euch die Salsicce geschmeckt? Und alle: Wonderful! Buonissime! Und ich: Dann dankt dem Flughafenzoll des Kennedy Airport, der sie hat passieren lassen. Am nächsten Tag stand in der New York Times: Metzger aus der Toskana reist illegal in die Staaten ein.

ZEITmagazin: Sie haben keine Kinder. Beschäftigt es Sie eigentlich, dass die Familientradition mit Ihnen endet?

Cecchini: Vor vielen Jahren haben Kim, meine zweite Frau, und ich entschieden, unsere Arbeit zu verschenken.

ZEITmagazin: Was meinen Sie damit?

Cecchini: Ich spreche vom Wissen. Du besitzt es nur, wenn du es an andere weitergibst. Wir haben angefangen, Leute aufzunehmen, die neugierig auf das Fleischerhandwerk sind und von uns lernen wollen. Bis heute hatten wir über 200 Studenten aus allen Teilen der Welt. Niemand hat je dafür gezahlt. Sie sind die Zukunft. Ich brauche keinen Sohn, wenn ich sie habe.

ZEITmagazin: Und was ist mit dem Laden hier in Panzano?

Cecchini: Für den gibt es sicher auch eine Zukunft. Hier sind viele junge Leute, die gut sind. Und überhaupt, ich habe nicht vor zu sterben, capito? Bis 100 würde ich schon gerne arbeiten. Mindestens.