IM NAMEN DES VATERS
// Das Magazin


Dies ist einer der ungewöhnlichsten und längsten Texte, die wir je publiziert haben: Sieben Geschwister werden jahrelang von ihren Eltern gequält. Dann gehen sie vor Gericht.


Im Juli 2018 ruft mich eine Freundin an. Ein Freund verklage seine Eltern, erzählt sie. Er stamme aus einer fundamentalistischen evangelikalen Familie, habe sechs Geschwister und alle seien in ihrer Kindheit einem System voller Züchtigungen und psychischer Gewalt ausgesetzt gewesen. Ein System, das die Eltern im Namen Gottes führten. Die sieben Kinder hätten damals immer wieder versucht, sich anderen Mitgliedern ihrer Gemeinde anzuvertrauen, doch niemand habe ihnen geholfen. Nun seien sie zwischen zwanzig und dreiunddreissig Jahre alt, geprägt von den Traumata der Vergangenheit und doch ganz unterschiedlich im Umgang damit.

Julian (33), der Älteste, sei nach seinem Auszug zu einer Art Vorbild für seine Geschwister geworden und habe einige von ihnen bei sich aufgenommen. Er sei beruflich erfolgreich und leite eine Schreinerei.

Darius (31, Name geändert) sei drogenabhängig und lebe auf der Strasse.

Theresia (29), Tess genannt, das einzige Mädchen, leide an einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Einen Grossteil ihres Erwachsenenlebens habe sie in Psychiatrien verbracht, an vieles aus der Kindheit könne sie sich bis heute nicht erinnern.

Clemens (28) ist der obengenannte Freund. Früher der Gläubigste von den Geschwistern, sei er heute Atheist. Er sei es auch, der mit seiner Anzeige wegen Kindesmisshandlung den Prozess gegen die Eltern initiiert habe.

Gregor (26) sei gläubig geblieben und weiterhin in fundamentalistischen Gemeinden aktiv. Seinen Eltern habe er vergeben und verbringe weiterhin Zeit mit ihnen.

Vincens (22) sei erst vor zwei Jahren zu Hause ausgezogen und lebe seitdem bei Julian. Er leide an Depressionen.

Renatus (20), der Jüngste, habe Trisomie 21. Die Eltern seien seine rechtlichen Betreuer und er lebe noch bei ihnen. Bis heute sei es den Geschwistern nicht gelungen, ihn dort rauszuholen.

Vier der Kinder würden bald in dem Prozess gegen ihre Eltern aussagen: Julian, Clemens, Vincens und Theresia. Clemens und Vincens träten ausserdem als Nebenkläger auf.

Meine Freundin erzählt, die Geschwister hätten erfahren, dass der Richter aus einer ähnlichen religiösen Gemeinde komme wie ihre Eltern. Jetzt seien sie verunsichert. Sie wüssten nicht, ob die weltliche Instanz, von der sie sich Gerechtigkeit erhoffen, tatsächlich weltlich urteilt. Deshalb würden sie einen Journalisten oder eine Journalistin suchen, der oder die sie die Zeit des Prozesses über begleitet und diesen dokumentiert. Ein weltlicher Augenzeuge. Zur Sicherheit.

Ich habe die Geschwister über drei Jahre kennen gelernt, sie zu den Verhandlungen begleitet und die Gespräche, die sie miteinander führten, dokumentiert. Entstanden ist die Chronik eines Prozesses, erzählt in sieben Kapiteln, eins für jedes Kind. Die Eltern haben auf Anfragen zu diesem Text nicht reagiert. 


Erstes Kapitel: Clemens


August 2018. Clemens beobachtet, wie mein Blick die Wände seines WG-Zimmers entlangschweift. Überall finden sich kleine Devotionalien. Glitzernde Jesus-Sticker an einer Wand, über dem Bett ein Marienbild, ein blauer Plastikrosenkranz.

Galgenhumor? Er grinst.

«Ja. Ich mag die katholischen Sachen. Das Katholische haben wir früher am meisten verachtet. Weil es ganz anders ist als unser Glaube.»

Er schaut sich um.
«Da oben, die Maria ...» Er zeigt übers Bett.

« … das ist eigentlich eine Vulva, wenn man genauer hinschaut. Und diese kleinen Heiligenbildchen, die find ich total witzig. Ich mag diesen Kult, er gibt mir irgendwas. Also ich glaube null daran. Aber es hat etwas Beruhigendes. Ich geh auch kaum noch in Kirchen, aber wenn, dann lieb ich es, für zwei Euro eine Kerze zu kaufen. Für den Gregor. Für meine Eltern. Weil ich es auch so lächerlich finde, dass man da für zwei Euro eine Kerze kauft, die anzündet und dann glaubt, dass da was passiert. Scheinheiligkeit war für mich schon ganz am Anfang ein riesiges Thema, weil ich meine Eltern scheinheilig fand.»

Warum scheinheilig?

«Weil sie Liebe predigen, aber keine Liebe leben. So was. Oder Vergebung. Aber Vergebung nie gelebt haben. Immer nur so getan.»

*

Verfahren 2 Js 55 455/15

Auszug aus der Anklageschrift:

«I. Herr Michael Alois L.

II. Frau Cornelia L.

Die Angeschuldigten misshandelten ihre Kinder während der gesamten Kindheit. Sie schlugen und traten auf ihre Kinder ein, um diese zu massregeln. Dies geschah über einen Zeitraum von ca. 12 Jahren. Neben Schlägen mit der flachen Hand oder mit Fäusten wurden ferner auch Kochlöffel und ein 30 cm langer Haselnussstock verwendet. Mit diesen Gegenständen wurde immer wieder auf die Kinder eingeschlagen, wobei die Kochlöffel durch die Wucht der Schläge regelmässig zerbrachen. Dabei wurde explizit darauf geachtet, dass die Schläge nicht in das Gesicht erfolgten, damit die Verletzungen nicht in Kindergarten oder Schule zu erkennen waren. Die einzelnen Bestrafungen mündeten regelmässig in Gewaltexzessen, wodurch die Kinder damals körperliche Schäden und bis heute psychische und seelische Schäden davontrugen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Fälle (...)»

*

Clemens: «Das Schlimmste ist das Leiden der anderen. Ich kann über alles, was mir angetan wurde, supergut reden, aber darüber, wie der Bruder vor meinen Augen geschlagen wurde – da verkrampft sich bei mir alles. Das Schlimmste ist auch immer dieses Warten. Wenn du weisst, morgen Abend kommt der Vater von einer Geschäftsreise wieder, und dann bekommst du richtig Prügel. Dieses Warten auf die Strafe, das ist das Schlimmste. Nur um zu existieren, musst du alle deine Gefühle nach hinten schieben. Und du hast es nicht in der Hand. Du hast einfach gar nichts in der Hand. Nie. Die kommen auch nachts und ziehen dich aus dem Bett. Dieses Gefühl, das ist das, was mich so lange getrieben hat: Es gibt keine Sicherheit.»

Es sind drei Jahre vergangen, seit Clemens, damals fünfundzwanzig Jahre alt, bei der Polizei war. Eine Therapeutin hatte ihm abgeraten, eine Beratungsstelle für häusliche Gewalt ebenso. «Überlegen Sie mal, das würde sich auf jeden Fall über Jahre hinziehen und dann wahrscheinlich eingestellt werden», wurde ihm gesagt. «Befassen Sie sich mit der Zukunft, nicht mit der Vergangenheit.»

Auch seine Geschwister reagierten verhalten. «Wir hatten alle dieses Zucken. Wenn sich mir mein alter Chef von hinten näherte, bin ich zusammenzuckt. Er hat dann immer gesagt: ‹Ich schlag dich doch nicht.› Es dauert lange, bis man solche Reflexe ablegt. Auch immer hören zu müssen, wer wo ist. Auf welchem Stock sind jetzt die Eltern? Ah, das ist die Mutter, das der Vater. Und wenn unten irgendwas war – sagen wir, man hörte laute Stimmen aus der Küche –, dann waren wir sofort alle leise, und einer wurde auf die Treppe geschickt, um zu lauschen. Und wenn dann ein Name von uns fiel, dann sind wir schnell zu dem ins Zimmer, haben ein bisschen aufgeräumt, und dann setzte der sich hin und tat so, als würde er Hausaufgaben machen. Und dann hörte man die Schritte hochkommen. Fuck, in welches Zimmer gehen die jetzt?»

Clemens hat die langen blonden Haare hochgebunden. Er spricht schnell und gestikuliert viel. Unter den wachen, warmen Augen liegt ein dunkler Schatten.

Es sind noch zehn Tage, bis der Prozess beginnen soll.

«In letzter Zeit träume ich andauernd, dass das Gericht in unserer alten christlichen Gemeinde ist und ich der Angeklagte bin. Dann wach ich auf und merke, ich liege in meinem Bett. Und dann sag ich mir: ‹Clemens, ist alles gut, es gibt die nicht mehr, du bist hier.›

Aber dann rufen so Leute an und heulen einem was vor. Ich solle der Grossmutter nichts mehr davon erzählen, weil die könne nicht mehr schlafen. Der geht es ganz schlecht. Was soll das bitte?

Oder so Freunde aus der christlichen Gemeinde. Als die vom Prozess gehört haben, haben sie als Erstes gefragt: ‹Böses mit Bösem vergelten, das ist jetzt gut?›

Oder mein Bruder Gregor. Der sagt, er habe so ein gutmütiges Herz, dass er die Eltern nicht ins Gefängnis bringen könne und nicht versteht, wie wir das hinkriegen. Das ist so dumm. Ich bringe niemanden ins Gefängnis. Sie bringen sich selber ins Gefängnis. Dass man das nicht versteht.

Aber so denkt jeder von denen: ‹Du darfst nicht vor Gericht gehen, weil du vergiltst dann Böses mit Bösem. Du bringst deine Eltern ins Gefängnis, nur weil die dir mal was angetan haben? Warum vergibst du denen nicht einfach?›»

Er schüttelt den Kopf.

«Als meine Anwältin mir sagte, wie der Richter reagierte, war ich entsetzt. Sie hatte ihn angerufen, weil sie gesehen hatte, dass er zwei der drei beantragten Verhandlungstage gestrichen hatte, und sie wissen wollte, warum. Dann habe er gesagt, dass das Gericht nicht der richtige Ort dafür sei. Dass er es komisch finde, dass man sein Seelenheil vor Gericht sucht. Und dass er wesentlich mehr wisse, als meine Anwältin zu wissen glaube. Da habe sie gesagt: Ja, was wissen Sie denn konkret? Und da habe er gesagt: Das sag ich Ihnen jetzt nicht. Aber ich kenne das. Ich weiss, was das ist. Und das müssen wir nicht aufbauschen. Das ist genau das, was ich mein ganzes Leben lang hatte, dass da jemand ist, der sagt, man muss da nicht mehr draus machen, als es ist. Ich bin nicht da, um mein ‹Seelenheil› zu suchen.»

*

Clemens’ Anwältin, Maike Koch, bestätigt seine Darstellung ihres Telefonats mit dem Richter. Richter Reinhard Grün bestreitet, dass das Telefonat in dieser Form stattgefunden habe. Dass er mehr wisse, habe sich lediglich darauf bezogen, dass er über ein Vorwissen zu Wesen und Struktur von Brüdergemeinden verfüge, da Koch ihm angetragen habe, diese aufzuarbeiten. Familie L. kenne er nur aus der Verfahrensakte, er habe vorher nichts von dem Fall gehört und habe auch keine Kontakte in ihr Umfeld. Ob er den konkreten Ausdruck «das Seelenheil vor Gericht suchen» benutzt hat, weiss er nicht mehr. Er sagt, er habe immer wieder erlebt, dass Nebenkläger vor Gericht ganze Abschnitte ihres Lebens aufarbeiten wollten, um zu innerem Frieden zu gelangen, er als Richter müsse das aber ausblenden. Nach dem Prozess seien sie dann oft enttäuscht, selbst wenn das Verfahren zu ihren Gunsten verlaufen ist. Menschlich täte ihm das leid.

*

September 2018. Zwei Tage vor Prozessbeginn versammeln sich Clemens, Vincens, Julian und Theresia in der Kanzlei ihrer zwei Nebenklageanwälte.

«Status-quo-Bericht. Weiss jeder, was das Problem mit der Anklage ist?»

Maike Koch, Opferanwältin, schaut erwartungsvoll in die Runde. Ihr Kollege Thorsten Kahl mustert die vier Geschwister.

Clemens hat die Hand vorm Mund, die Augen weit geöffnet.

Julian sitzt zurückgelehnt da. Die Beine entspannt. Die Haare fast zur Glatze geschoren. Der Blick immer freundlich.

Vincens schaut auf den Boden. Er sieht Clemens ähnlich. Auch lange Haare. Auch Dutt. Die Gesichtszüge jugendlicher.

Tess, wie Theresia heute genannt werden möchte, blättert in der Mappe. Die Haare trägt sie kurz. Vorne schwarz, hinten grün gefärbt.

«So grob», sagt Julian.

Anwältin: «Also...»

Für den Prozess musste der Staatsanwalt aus den Aussagen der Geschwister konkrete Taten extrahieren. Nur Handlungen, die zeitlich exakt zuzuordnen und nicht verjährt sind, können geahndet werden. Aufgeführt werden in der Anklageschrift neun solche Taten. Vier davon betreffen Vincens, drei Renatus und jeweils eine Gregor und Clemens.

Als die Anwältin zur Vorbereitung auf den Prozess die Anklage noch einmal gelesen habe, sei ihr aufgefallen, dass der Staatsanwalt einen Namen vertauscht hatte. Ziffer sechs, die Sache mit der Milchschnitte, betreffe nicht Clemens, wie in der Anklage stehe, sondern Vincens. Was bedeute, dass in der Anklage keine Tat gegen Clemens mehr aufgeführt sei. Damit wäre Clemens, der Initiator des Prozesses, kein Geschädigter mehr. Er würde zum Zeugen degradiert und könne weder als Nebenkläger auftreten noch Schadensersatz fordern.

Um das zu verhindern, müsse der Staatsanwalt die Anklageschrift um eine Tat erweitern, die Clemens betrifft. Das sei möglich, sagt sie, aber niemals bis übermorgen.

Anwältin: «Jetzt habe ich Folgendes gemacht: Ich habe ein Fax geschickt mit der Mitteilung, dass Sie», sie schaut Clemens an, «akut erkrankt sind.»

Clemens: «Aber der Gregor weiss, dass ich nicht krank bin. Mit dem hab ich heute telefoniert.»

Anwältin: «Aber jetzt hab ich es gefaxt...»

Clemens: «Sie habens schon gefaxt?»

Anwältin: «Ja.»

Clemens: «Aber ich dachte, wir besprechen heute, wie wir da vorgehen.»

Anwältin: «Jetzt hab ich es hingefaxt.»

Sie erklärt, es gebe drei Taten, die Clemens betreffen, die gut in die Anklage passen würden. Allerdings widersprächen sich die Aussagen der Geschwister bezüglich der Tatzeitpunkte. Sie schlägt vor, noch mal gemeinsam zu überlegen, wann was war, um dann eine neue Anklage vorzuformulieren, welche die Staatsanwaltschaft nur übernehmen müsse.

Anwältin: «Das Erste ist die Skiurlaub-Geschichte in Österreich. Das Zweite ist die Auf-dem-Kopf-rumspringen-Geschichte. Und die dritte Geschichte ist, als Sie nachts aus dem Bett geprügelt werden wegen dem Schulbrot oder was es war.»

Sie schaut Clemens an.

«Sie sagten, in Österreich seien Sie zwölf oder dreizehn gewesen.»

Clemens: «Ich bin 1990 geboren. 2001 sind wir nach Münchholzhausen gezogen, und ich meine, wir sind von dort in den Urlaub gefahren. Also muss ich älter als elf gewesen sein.»

Julian: «Wie oft waren wir denn in Österreich? Einmal?»

Tess: «Einmal.» 

Julian: «Dann war ich dabei. Da hats geschneit am Ende.»

Tess zu Julian: «Du bist 2003 ausgezogen.»

Julian: «Ich glaube nicht, dass ich, kurz bevor ich ausgezogen bin, noch in einem Family-Urlaub war.»

Tess: «Es muss 2002 gewesen sein. Weil direkt im Jahr des Umzugs war es auch nicht.»

Anwältin zu Julian: «Sie haben in Ihrer Vernehmung gesagt, es war 1997.»

Alle lachen kurz auf, wechseln dann zur Auf-dem-Kopf-rumspringen-Geschichte. Tess erinnert sich, dass sie dabei war.

Clemens: «Das muss so 2003, 2004 gewesen sein.»

Tess: «Nein. 2005 oder 2006! Da war ich in der Ausbildung.»

Clemens, erstaunt: «Ah okay, siehste. Wenn sogar du das weisst.»

Julian zu Tess: «Und du sagst immer, du weisst nichts.»

Tess lacht.

Tess: «Ich hab vor euch gefrühstückt, und sie war da schon scheisse drauf. Dann bin ich runter und wollte Schuhe anziehen. Da gab es so einen Schlag durchs ganze Haus. Ich bin hoch, und du lagst auf dem Boden.»

*

Später telefonieren Anwältin und Richter. Der Richter verschiebt den Prozess bis auf Weiteres. Die Anwälte warnen die Geschwister vor, dass es Monate dauern kann, bis die überarbeitete Anklage fertig ist und ein neuer Prozesstermin festgelegt wird.

Die vier fahren zurück zur «Holzfreude», so nennt sich Julians Hof. Ein grosses Gelände rund um seine Schreinerei mit Garten, Showroom und Wohnhaus. Oben leben Julian, seine Frau Joana und seine Tochter Lola. Unten Vincens mit einem Freund.

Clemens und Tess entscheiden sich, noch nicht zurück nach Hause zu fahren, sondern die nächsten Tage dazubleiben. Es ist das erste Mal, seit sie von daheim ausgezogen sind, dass die drei Brüder Zeit mit ihrer Schwester verbringen.

Die Tage sind warm und sonnig. Freunde und Bekannte kommen und gehen.

*

An einem Nachmittag kommt Clemens’ Freundin Natascha vorbei. Sie setzen sich auf die Dachterrasse.

Clemens: «Ich war in der Gemeinde sehr aktiv, aber komplett unangepasst. Ich hatte öfter so Ältesten-Gespräche, wo die dich einberufen, weil du irgendwas falsch gemacht hast. Zum Beispiel wegen meinem Auto. Es war ein Chaotenauto, voll mit Müll und Klamotten. Und das habe ich immer bei der Gemeinde vor der Tür geparkt. Und dann haben die sich über mein Auto aufgeregt, weil so wie das Auto aussieht, sieht es in deinem Herzen aus, und wenn dein Herz so aussieht, darfst du Jesus nicht in dein Herz lassen. Dann stimmt da auf jeden Fall irgendwas nicht.»

Natascha: «Wenn du irgendwo gewohnt hast, hast du eigentlich immer woanders übernachtet.»

Clemens: «Ich konnte halt mit einem ‹Zuhause› gar nichts anfangen. Der Julian hat mir das auch immer gesagt, aber ich konnte es nicht glauben. Wenn einer dir sagt, dass du etwas nur aus den und den Gründen machst, dann verstehst du das nicht. Du denkst, du machst das, weil du das bist, weil du das halt so machst. Bis du dahinterkommst ...»

*

Als Clemens, Vincens und Tess abends ins Bett gehen, geht Julian noch mit Pepe, dem Hund, ein paar Meter die Strasse runter.

Er erzählt, Clemens habe einen langen Weg raus aus der Depression hinter sich. Lange sei er mit vielen Dingen des Alltags nicht zurechtgekommen. Aufstehen. Briefe öffnen. Rechnungen bezahlen. Jacken tragen. Schuhe tragen. Viele hätten gefragt: «Was ist eigentlich mit dem Vogel los?» «Das ist verletzend für jemanden, bei dem man froh sein kann, dass er überhaupt was hinkriegt.»

Julian wirkt ernster als sonst. Er sagt, Clemens erhoffe sich nun, dass ihm das Gericht bescheinige, dass er etwas Schlimmes erlebt habe. Er wolle eine offizielle Rechtfertigung dafür, dass er eben kein Typ ist, bei dem alles glatt läuft.

«Aber was, wenn es dann keine Verurteilung gibt?»

*

Im Januar 2019 sitzen Clemens und ich in einem weissen Lieferwagen. Clemens trägt gelb-grün-schwarze Dienstkleidung. Er arbeitet als IT-Techniker, installiert, repariert. Internet, Fernsehen, Telefon.

Seine Ausbildung hat er bei der Telekom gemacht, auf Wunsch seines Vaters, der auch dort arbeitet. Nach seinem Auszug von zu Hause arbeitet er zwei Jahre auf Montage, kündigt und schafft es bald nicht mehr, sich um sich selbst zu kümmern. Er hat Schulden, keine Versicherung, der Strom wird ihm abgestellt. Als Julian seinen Hof kauft, bietet er Clemens an, einzuziehen und in der Schreinerei zu arbeiten. Erst schafft Clemens nur eine Stunde in der Woche. Julian holt ihn jeden Morgen aus seinem Zimmer. Später zwei Stunden. Irgendwann Vollzeit. Vor einem Dreivierteljahr, nach fünf Jahren bei Julian, ist Clemens ausgezogen. Er war bereit, unabhängig zu werden.

Wir fahren von Wohnung zu Wohnung. Clemens arbeitet schnell und effizient. Seine Kunden mögen ihn. Er hilft auch, wenn sie eigentlich den falschen Dienst gerufen haben, und programmiert noch die Senderliste des Fernsehers, damit sie wieder so ist, wie sie schon immer war.

Er erzählt, er möge es, diese Einblicke zu bekommen in all die fremden Leben. Aber man merkt, dass er nicht für seine Arbeit brennt. Im Auto sagt er einmal, er habe immer dieses Grundgefühl, dass er nicht der sei, der er eigentlich sein könnte.

Clemens ist intelligent und neugierig. Er liest Fachbücher über Kindererziehung, besucht die Ausstellungen der Kunsthochschule, und als eine grosse Querdenker-Demo Schlagzeilen machte, ist er noch Tage später heiser, weil er den ganzen Tag versucht hat, Demonstranten zu überzeugen, wieder nach Hause zu gehen.

Jetzt im Auto erzählt er, alles, was er früher wollte, sein einziges grosses Ziel, sei immer gewesen, weg von seinen Eltern zu sein. Irgendwo in einer eigenen Wohnung zu leben. Ohne dass ihm irgendwer etwas vorschreibe. Jetzt habe er das geschafft, er sei frei, aber er könne die Freiheit nicht nutzen. Er schaffe es nicht, in die Zukunft zu schauen. Er brauche Stabilität, um die einfachsten Sachen zu meistern. Setze er sich ein Ziel, lähme ihn sofort der Druck, es auch erreichen zu müssen. Er versage von vornherein.

«Und dann lebe ich halt in der Gegenwart.»

*

Als der Staatsanwalt Ende 2018 die überarbeitete Anklage schickt, beinhaltet diese drei Anklagepunkte, die Clemens betreffen: die Skiurlaub-Geschichte, die Auf-dem-Kopf-rumspringen-Geschichte und die Nachts-aus-dem-Bett-geprügelt-werden-Geschichte.

Neuer Prozessstart ist nun der 4. Juli 2019, zehn Monate nach dem ursprünglichen Termin.

*

«Wann geht es morgen los?», fragt Joana, Julians Frau, am Abend vor dem Prozess.

Clemens: «Um Viertel vor neun treffen wir uns mit den Anwälten. Um neun Uhr gehts los. Wie spricht man den Richter überhaupt an?»

Natascha: «Euer Ehren?»

Joana: «Eigentlich schon, oder? Aber ihr sprecht den ja nicht direkt an.»

Clemens: «Ja, vielleicht manchmal, um den ein bisschen aus der Reserve zu locken. Euer Ehren, was halten Sie eigentlich von Schwulen?»

Joana: «Ach ja. Der ist ja in einer Gemeinde.»

Clemens, angriffslustig: «Euer Ehren, wie ist eigentlich die Rolle der Frau in der Gemeinde zu sehen? Euer Ehren, wer ist der Älteste in der Gemeinde? Euer Ehren, warum müssen Frauen immer schweigen? Euer Ehren, wie ist eigentlich der Vers auszulegen: ‹Züchtigt eure Kinder mit einem Knüppel?› Euer Ehren, Sie haben früher bestimmt Beiträge von meinem Vater gelesen. Wie fanden Sie denn seine Ansichten?»

*

Die christlichen Gemeinden, denen die Familie im Laufe der Zeit angehörte, zählen zur Brüderbewegung. Genauer: zum Zweig der Geschlossenen Brüder, auch Alte Versammlung genannt. Sie gehören zu den strengsten Gemeinden überhaupt innerhalb der Evangelikalen.

Die Geschlossenen Brüder sehen die Bibel nicht als historisches Dokument, das es zu interpretieren gilt, sondern nehmen sie wörtlich. Den Beratungsstellen der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen sind zahlreiche Fälle von Kindeswohlgefährdungen durch die Geschlossenen Brüder bekannt. Oft sind auch das propagierte Frauenbild und die Sexualmoral Themen von Konflikten.

*

Clemens: «In meiner Kindheit war der Glaube das Einzige, was mich hat überleben lassen. Auch wenn ich jetzt nicht mehr glaube, würde ich trotzdem sagen, dass er mich gerettet hat. Der Himmel war meine Zukunft. Und auch, dass Leiden nicht umsonst ist, wenn man Christ ist. Man weiss, es wird sich auszahlen. Auf der anderen Seite war der Glaube meine Verdammnis. Er hat mich an die Eltern gebunden. Alle in der Welt da draussen waren Feinde. Der Glaube war der Grund, warum ich nicht früher zur Polizei gegangen bin. Polizisten waren weltliche Gerichte. Entweder du dienst Gott oder dem Teufel. Jeder, der nicht für Jesus ist, ist gegen Jesus. Die evangelische Kirche, die katholische Kirche, also alle Sachen, die ähnlich sind, sind noch schlimmer als Nicht-Christen. Das sind Irrlehrer. Die zerstören den wahren Glauben von innen. Denen darf man nicht mal die Hand geben.»

*

Exklusivität, wie hier die angebliche Hoheit über jegliche Wahrheit, ist ein charakteristisches Merkmal fanatischer Gemeinschaften. Gemeinschaften also, die eine radikale Form von Religion leben.

In seinem Buch «Grundwissen Religionspsychologie» schreibt der Verhaltenswissenschaftler Hansjörg Hemminger, dass fanatische Gemeinschaften meist aus sogenannten religiösen Intensivgruppen heraus entstehen. Also aus Gruppen, die sich stärker für ihren Glauben engagieren als die religiöse Tradition, der sie entspringen. Sie bieten eine intensivere religiöse Erfahrung, haben aber auch oft strengere Regeln. Die Forschung zeigt, dass es häufig psychisch vorbelastete Menschen sind, die sich solchen Gruppen anschliessen.

Intensivgruppen sind aber nicht per se gefährlich, sie können ihre Mitglieder auch auffangen. Problematisch werden sie erst, wenn mit der Zeit ihr anfänglicher Enthusiasmus für die Sache schwindet. Ein ganz normaler Prozess, der die Gruppe vor die Wahl stellt: Sie kann entweder in eine «angepasste, alltagstaugliche Form» übergehen oder «äusseren Druck aufbauen», um ihre anfängliche Intensität zu halten. Entscheidet sie sich für Ersteres, passt sie sich ihren Umständen an und lebt in einer weniger intensiven Form weiter. Entscheidet sie sich aber für den Aufbau von äusserem Druck, beginnt der Fanatismus.

Grosse religiöse Traditionen wirken Fanatismus gezielt entgegen. Zum Beispiel durch religiöse Ämter, die die Gruppe korrigieren, oder auch durch die Verpflichtung zum Dienst an der Gesellschaft, die eine Auseinandersetzung mit der Umwelt sicherstellt und somit einer Abschottung entgegenwirkt.

All diese Korrektive aber lehnen die Geschlossenen Brüder ab. Sie pflegen keine Kontakte zu anderen Gemeinschaften und akzeptieren keine Form von Struktur oder geistlichen Ämtern. Alle Brüder sind gleich, und nur der Heilige Geist kann sie anleiten.

Für Hemminger sind die Geschlossenen Brüder das klassische Beispiel einer Gemeinschaft, die sich weigert, sich der Realität des menschlichen Lebens anzupassen. Die Geschlossenen Brüder sind der fanatischste Zweig der Brüderbewegung. Seit ihrer Gründung in Irland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den Priester John Darby ist ihre Geschichte geprägt durch endlos viele Spaltungen. Diese basierten meist auf inneren Konflikten bezüglich der Alltagstauglichkeit der Gemeinschaft und endeten damit, dass wieder und wieder Mitglieder ausstiegen, um sich den offeneren Brüdergemeinschaften, einem weniger fanatischen Zweig der Brüderbewegung, zuzuwenden.

*

Clemens: «Ich kann ja mal erklären, wie das sonntags war. Alle Kinder müssen sich schicke Sachen anziehen. Kurz bevor es losgeht, stehen alle vor der Tür. Mit dem Liederbuch und der Bibel in der Hand, selbst wenn du nicht lesen kannst. Und dann geht unsere Tür auf, eine Metalltür.»

Bevor die Familie in ein Einfamilienhaus zieht, lebt sie viele Jahre im Haus der Brüdergemeinde. Der Gemeindesaal befindet sich in einem Anbau, sodass sie sonntags nur durch eine Verbindungstür innerhalb des Hauses gehen mussten.

«Das war schon ein besonderer Moment. Man kommt rein, in der Reihenfolge: vorne der Vater, dann die Mutter und dann die Kinder, vom Ältesten bis zum Jüngsten. Im Raum ist absolute Stille. Du hörst jedes Knistern. Es gibt eine ganz strenge Sitzordnung. In der Mitte ist der Tisch des Herrn. Der Saal ist ein grösserer Raum, meistens sind so hundert Personen da. Dann gibts zwei Blöcke: den Frauen- und den Männerblock.»

Er malt den Saal mit den Händen in die Luft.

«Bei den Männern in der Mitte ist der Tisch des Herrn. Da steht das Abendmahl drauf, Brot und Wein. Je näher du an dem Tisch sitzt, desto höher ist dein Rang in der Gemeinde. Die Ältesten sitzen direkt an dem Tisch. Hinten sitzen Zwanzigjährige.»

Hinter dem Männerblock ist der Frauenblock.

«Hier sitzen die Frauen und die Kinder bis vierzehn, fünfzehn. Alle Frauen tragen lange Röcke und Kopftücher. Man darf auf gar keinen Fall die Haare schneiden als Frau. Und auch keine Ohrringe tragen. Wenn eine Frau Ohrringe hat, dann sitzt sie ganz hinten und fühlt sich schlecht.

Dann fängt die erste Stunde an, indem einer der ältesten Brüder sie eröffnet. Wer das ist, bestimmt der Heilige Geist. Also irgendeiner steht dann einfach auf und redet. Richtig schlimm ist es, wenn zwei gleichzeitig aufstehen. Dann ist klar, nur einer von ihnen wurde vom Heiligen Geist ausgewählt, der andere ist selbst aufgestanden.»

*

«Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter, wie es sich geziemt im Herrn.» (Kol 3, 18)

Für die Geschlossenen Brüder ist die Frau schwach. Sie braucht einen Mann, der ihre Schwäche ausgleicht. Ihr Mann ist ihr Haupt. Sie darf keine Autorität über ihn ausüben. Über keinen Mann. Sie darf nicht frei entscheiden, ob sie arbeitet oder was. In der Gemeinde darf sie nicht lehren und auch nicht sprechen.

«Die Frau verfügt nicht über ihren Körper, sondern der Mann.» (1 Kor 7, 4)

Sex in der Ehe ist eine heilige Pflicht. Verweigert sich die Frau dem Mann, ist das eine Sünde. Homo- und Transsexualität sind böse. Sexuelle Fantasien krank. Sex vor der Ehe ist verboten. Abtreibung untersagt. Sexualunterricht abzulehnen.

«Rute und Zucht verleihen Weisheit, aber ein sich selbst überlassener Knabe bereitet seiner Mutter Schande.» (Spr 29, 15)

Kinder sollten gefügig sein. Sie werden zur Unterordnung erzogen. Angst, Schuldgefühle und Schläge sind Erziehungsmittel. Kinder müssen verstehen, dass der Mensch böse ist und sie in der Endzeit leben. Das Jüngste Gericht ist nicht fern, und nur die wahren Gläubigen kommen zu Gott. Feinde sind der technische Fortschritt, liberales Denken, Geisteswissenschaften.

*

Am Morgen des ersten Prozesstages ist es sonnig, aber angenehm frisch. Die Strassen von Wetzlar sind leer. Ein roter Polo fährt auf den Parkplatz des Amtsgerichts. Clemens, Vincens und Natascha steigen aus. Tess und Julian sind nicht dabei. Da sie keine Nebenkläger sind, dürfen sie nicht von Beginn an zuschauen, sondern erst nach ihrer eigenen Aussage.

Clemens guckt sich zweimal um, dann gehen sie Richtung Eingang. Beide Brüder tragen Schwarz.

Raum 204 ist gross. Die gewaltigen Altbaufenster fluten ihn mit Licht. Vincens schaut kurz rein. Dann setzen sie sich mit den Anwälten in eine Sitzgruppe, etwas weiter weg vom Saal, nahe der Treppe. Die Stühle direkt neben Raum 204 lassen sie frei.

«Da können ja die Eltern sitzen», sagt Clemens.

Die Anwältin erklärt, dass ein Schöffengericht den Fall verhandelt. Also ein Richter und zwei Laien. Sie erklärt auch: Wird jemand vor einem Schöffengericht angeklagt, bedeutet das, dass eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei und weniger als vier Jahren erwartet wird. Eine Strafe über zwei Jahren bedeutet Gefängnis. Darunter Bewährung.

Der Anwalt betont, sie könnten immer eine Pause machen, nachfragen, wenn sie etwas nicht verstehen, und sich mit ihnen beraten.

Während Clemens den Anwälten Fragen stellt, knibbelt Vincens an einem Bleistift.

Kurz vor neun Uhr kommen vier Personen die Treppe hoch. Zunächst die beiden Verteidiger, mit zügigen Schritten und Akten unter dem Arm.

Dann ein sehr grosser, hagerer Mann Anfang sechzig, mit einer verdunkelten Brille, die seine Augen gerade so durchscheinen lässt. Neben ihm eine kleine, schmale Frau, Mitte sechzig, mit zusammengestecktem, grauem Haar, knielangem Rock und gesenktem Kopf.

Während ihr Gesicht erstarrt, als sie oben ankommen, und ihr Blick unsicher wird, nickt er kaum merklich in Richtung seiner beiden Söhne.

*

Auszug aus einem Text der Evangelischen Nachrichtenagentur Idea über Richter Reinhard Grün mit dem Titel «Wenn ein Christ Richter ist»:

«‹Als Strafrichter muss ich die Gesetze anwenden, die mir zur Verfügung stehen. Das ist mein Handwerk›, erklärt Grün. Distanz sei nötig, ohne dabei herzlos zu werden. ‹Gottes Gerechtigkeit kommt sowieso, aber eben allein von Gott!› Das Urteil in einem Strafprozess müsse mit weltlichen Gesetzen begründet werden. Auch wenn ihm diese Gesetze nicht immer gefallen. Besonders in ethischen Fragen mache der Gesetzgeber keine gute Figur: ‹Unsere Gesellschaftsstruktur bröckelt. Die Familie ist nicht mehr das Leitbild. Und der Gesetzgeber vollzieht das alles kritiklos nach.› Das neue Sexualstrafrecht hält er überwiegend für Aktionismus: ‹Es wird vor allem zu noch mehr Falschanzeigen führen.›»

*

Richter: «Schauen wir doch mal, wen wir alles hier haben. Michael Alois L., das sind Sie?»

Vater: «Ja.»

Richter: «Cornelia L. sind Sie?»

Mutter: «Ja.»

Der Richter fragt Geburtsdatum, Adresse, Einkommen ab. Der Vater zieht jedes seiner Worte in die Länge. Die Stimme der Mutter ist dünn, manchmal bricht sie. Beide tragen weisse Hemden.

Richter: «Dann kommen wir zu den persönlichen Verhältnissen. Ich entnehme der Akte, Sie haben Kinder. Wie viele sinds?»

Vater: «Sieben.»

Richter: «In welchem Alter?»

Vater: «Der Älteste ist 1985 geboren.»

Richter: «Also heute wie alt?»

Vater: «34. Der Jüngste ist 21.»

Er überlegt kurz, sagt dann: «Und dazwischen.»

Der Richter wiederholt: «Und dazwischen … Okay. Das können wir nachtragen. Der Jüngste hat das Downsyndrom und lebt noch zu Hause?»

Vater: «Ja.»

Richter: «Alle anderen leben nicht mehr zu Hause.»

Vater: «Ja.»

Richter: «Okay.»

Während Vater und Mutter reden, starrt Clemens ins Leere. Vincens zittert leicht. Clemens legt ihm seine Hand auf den Rücken.

Nachdem der Staatsanwalt die Anklage vorgetragen hat, lesen die Verteidiger jeweils für Mutter und Vater eine Stellungnahme vor. Von den zwei Taten, die ihm vorgeworfen werden, räumt der Vater eine ein. Bei der anderen sei er nicht dabei gewesen. Die Mutter räumt alle Taten ein. Ziffer fünf habe sie allerdings alleine und nicht mit ihrem Ehemann begangen.

Ausserdem heisst es in der Stellungnahme, die Eltern seien damals der Überzeugung gewesen, dass ihr Erziehungsstil der richtige sei. Heute wüssten sie, dass er untragbar war und würden ihn zutiefst bedauern.

*

Einmal erzählt Clemens mir: «Als ich zwanzig war, habe ich auf Drängen der Ältesten der Gemeinde, denen ich mich anvertraut hatte, meinen Vater zum Essen eingeladen. Es ist total skurril, zu was die einen zwingen. Das kann ich mir auch selber nicht verzeihen, dass ich da mitgemacht habe.

Und dann habe ich gesagt, ich wolle darüber reden, was bei uns alles falsch gelaufen ist. Und dann hat er sofort gesagt: ‹Ja. Die Mutter hat Alkohol getrunken, und es tut mir leid, ich hätte euch besser unterstützen sollen. Ich habe euch da alleine gelassen. Die Mutter war überfordert mit euch, und ich habe das nicht gemerkt.›

Nichts davon, dass er mir irgendwas angetan hätte. Nur, dass er uns ein bisschen im Stich gelassen hatte. Was total der Schwachsinn ist. Aber ich habe das akzeptiert und gesagt: ‹Ja, ich vergebe dir.› Und dann haben wir zusammen gebetet und sind nach Hause gefahren. Und ich dachte: ‹Geil, ich habe mit ihm darüber geredet und konnte ihm vergeben, und es ist ein bisschen gut.›»

Wann hast du gemerkt, dass es nicht gut war?

«Erst als ich beim Julian war und dann endlich so weit unten, dass ich gemerkt habe, ich habe mein Leben nicht im Griff. Ich renne wirklich vor etwas weg. Warum muss ich mich die ganze Zeit so betäuben? Nicht mit Drogen, aber mit Aktionen und Glauben und Zeug?»

*

Richter: «Ich sehe den Herrn Clemens L.»

Clemens nickt.

Richter: «Darf ich Sie bitten, hier vorne Platz zu nehmen?»

Clemens steht auf.

Richter: «Herr L., ich möchte Sie auf Folgendes hinweisen. Sie sollen als Zeuge vernommen werden. Als Zeuge muss man vollständig wahrheitsgemäss berichten. Vollständig bedeutet: nichts erfinden und auch nichts weglassen. Da muss man sagen, was man noch in der Erinnerung hat. Und wenn man etwas ungenau weiss, kann man auch das sagen. Grundsätzlich gehe ich bei jedem Zeugen davon aus, dass er mir die Wahrheit sagt. Falls das mal nicht der Fall ist, muss ich darauf hinweisen: Wer vor Gericht lügt, macht sich strafbar. Herr L., Sie heissen Clemens mit Vornamen und L. mit Nachnamen?»

Clemens: «Ja.»

Richter: «Und heute sind Sie wie viele Jahre alt?»

Clemens: «29.»

Richter: «Von Beruf bitte.»

Clemens: «IT-Systemelektroniker.»

Richter: «Bei den Angeklagten handelt es sich um Ihre Eltern. In einem Verfahren gegen Ihre Eltern müssen Sie keine Angaben machen. Das ist Ihre Entscheidung. Wie siehts aus? Möchten Sie Angaben machen?»

Clemens: «Ja.»

Richter: «Sie möchten Angaben machen … Gut.»

Der Richter schreibt jede Antwort mit.

Richter: «Herr L., Sie sind, wenn ich das richtig sehe, mehrfach vernommen worden. An Vorwürfen zu Ihren Lasten sind durch die Staatsanwaltschaft drei herauskristallisiert worden. Irgendwann im Jahr 2002. Sie kommen von der Schule nach Hause. In der Küche soll es zu Tritten, An-den-Haaren-Zerren und dergleichen gekommen sein.

Zunächst mal: Können Sie sich an den Vorfall erinnern?»

Clemens: «Ja. Ich weiss nicht mehr, warum es anfing. Das kann ein verschmiertes Schulbrot im Ranzen gewesen sein. Das kann ein unaufgeräumtes Zimmer gewesen sein. Auf jeden Fall war es direkt nach der Schule.»

Richter: «Kamen Sie alleine nach Hause?»

Clemens: «Es waren noch Geschwister dabei.»

Richter: «Was passiert jetzt in der Küche?»

Clemens antwortet nicht. Sekunden vergehen. Der Richter schaut auf. Die Anwältin lehnt sich in Clemens’ Richtung. «Pause?»

Aus dem Zuschauerbereich ist Clemens’ Gesicht nicht zu erkennen.

«Brauchen Sie eine Unterbrechung?», fragt der Richter.

Als Clemens wieder nicht reagiert, übernimmt die Anwältin: «Ja, er braucht eine Pause.»

Clemens rennt raus. Vincens, Natascha, die Anwälte, alle hinterher. Er steht im Flur am offenen Fenster. Keiner traut sich hin. Er weint.

*

Zehn Minuten später.

Richter: «Gehts wieder?»

Clemens: «Ja.»

Richter: «Okay. Sie kommen nach Hause. Irgendwas ist passiert. Was ist passiert?»

Clemens: «Zuerst gibt es eine verbale Anschuldigung. Ich weiss nicht mehr, worum es ging. Das schaukelt sich dann irgendwie hoch, ohne dass man selber etwas dazu beiträgt. Also es gibt keinen Streit in irgendeiner Weise. Ich kann mich nicht erinnern, je Widerworte gegeben oder mich gewehrt zu haben. Ausser so körperliche Reaktionen, dass man sich die Hände vors Gesicht hält oder so. Dann hat sie mich gepackt und dabei geschrien. So was wie: Warum? Wie kannst du nur? Und dabei hat sie angefangen, irgendwie auf mich einzuschlagen.»

Richter: «Geschlagen heisst, mit den Händen geschlagen?»

Clemens: «Ja. Und dann bin ich auf den Boden, und dann kann ich mich besonders an diese orangefarbenen Fliesen erinnern. Das war an der Stelle zwischen Küche und Esszimmer, und ich weiss, dass Geschwister am Esszimmertisch sassen. Wer genau ...»

«Noch mal», unterbricht der Richter.

Clemens: «Zwischen Küche und Esszimmer, der Bereich dazwischen, der ist offen. Ich könnte den Zentimeter, die Fliese einzeichnen, wo ungefähr mein Kopf war, weil ich noch genau dieses Bild ...»

Der Richter unterbricht erneut: «Sie sagten irgendwas mit Geschwistern.»

Clemens: «Die sassen am Esszimmertisch.»

Richter: «Wurde da gegessen?»

Clemens: «Ja.»

Richter: «Gut.»

Clemens: «Dabei tritt meine Mutter mich. Und dann weiss ich ganz genau, wie mein Kopf auf die Fliese geknallt ist.»

Clemens fährt sich durchs Haar.

Richter: «Ein Tritt? Mehrere Tritte?»

Clemens: «Mehrere Tritte.»

Richter: «Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten zu treten. Man kann zum Beispiel treten, wie man einen Fussball tritt, also mit dem Bein Schwung holen. Man kann stampfen, also eine senkrechte Bewegung.»

Clemens: «Das war Stampfen. Mein Kopf ging zwischen Fuss und Fliese hin und her.»

Der Richter schreibt das auf.

Richter: «Wenn Sie sagen, mein Kopf ging zwischen Fuss und Fliese hin und her, verstehe ich das so, dass, wenn hier der Kopf ist und da der Fuss, dass es dann mehrfach diese Bewegung gibt ...»

Der Richter macht es vor.

« … und der Kopf schlägt dann auch mehrmals auf der Fliese auf.»

Clemens nickt.

Richter: «Ich lese in der Akte, das gab blaue Flecken und Kopfschmerzen. Das kann man sich leicht vorstellen. Wie endet denn das?»

Clemens: «Man liegt da und heult, und dann steht man auf und kriegt noch ein Taschentuch. Eventuell sogar von der Mutter. Dann geht man vielleicht noch mal ins Bad, und dann setzt man sich an den Küchentisch.» 


Zweites Kapitel: Vincens


September 2018.

Vincens spricht kaum. Er sieht oft aus, als hätten ihn seine Gedanken weit davongetragen. Das Kinn im Pulli versteckt. Die Augen leicht geschwollen. Der Blick verträumt.

Anstatt anderen in die Augen schaut er auf den Tisch, spielt darauf herum. Einmal sind nur er, Clemens und Tess in der Küche. Als Clemens ins Bad geht, nutzt Tess den Moment und dreht sich zu Vincens.

«Wie gehts dir?», fragt sie mit behutsamer Stimme. «Nicht gut, wa?»

Vincens schaut verwundert auf.

«Hm? Mir? Ach doch. Jaja. Alles chillig.»

Bevor sie noch etwas fragen kann, stellt er hastig sein Glas weg, steht auf und verlässt die Küche.

*

Im Stockwerk darüber bringt Julian seine Tochter Lola ins Bett. Er liest ihr vor, bis sie einschläft, dann setzt er sich zu seiner Frau Joana auf das Sofa.

Joana sagt, man merke, dass Vincens wieder eine seiner depressiven Phasen habe. Seit sie ihn kenne, habe er diese Phasen, dann sei er nur still, spreche kaum und verlasse sein Zimmer selten.

«Nur zur Arbeit, da geht er immer hin. Die Arbeit ist ihm so wichtig.»

Julian nickt. Er erzählt, dass Vincens, der Zweitjüngste, auf die Welt gekommen sei, als der Stress in der Familie schon gross war. Er sei in die Hochphase der Gewalt und der Ungerechtigkeit geboren worden. Und das habe man ihm auch immer deutlich angemerkt.

In einer Vernehmung hat Julian mal gesagt, sie hätten versucht, Vincens zu unterstützen, aber er sei in seiner Entwicklung nie an den Punkt gekommen, dass er «sich selbst als Persönlichkeit wahrnehme».

Jetzt sagt er: «Ich dachte früher immer, der Vinc wirds nicht schaffen. Ich erinnere mich daran, wie er schon mit drei Jahren weinend im Bett lag und sagte, dass er sterben will.»

*

Als Vincens und ich das erste Mal allein sind, setzen wir uns auf die Dachterrasse. Er lächelt vorsichtig, als ich sage, ich hätte nach diesen ersten Tagen das Gefühl, noch nichts über ihn zu wissen.

Ja, sagt er. Wenn so viele da seien, rede er nicht viel. Gerade wenn es die älteren Geschwister seien. Da sei noch die Hierarchie von früher.

Er erzählt, er lerne sich auch selbst erst kennen, seit er vor vier Jahren bei den Eltern ausgezogen ist.

Was er schon über sich wisse, frage ich.

Er sagt, er merke, dass Menschen ihn meist mögen und ihm viel erzählen. Oft wisse er alles über sie, aber sie kaum etwas über ihn.

Er sagt, er merke auch, dass Menschen vorsichtig mit ihm umgehen. Vorsichtiger als mit anderen. Zum Beispiel im Fussballverein, wo die Männer seien, da steche er besonders heraus. Er sei das Gegenteil von ihnen. Lange Haare, immer barfuss, immer freundlich, hat noch nie eine Gelbe Karte bekommen. Wenn er etwas falsch mache und sich dann kurz über sich selbst aufrege, nach einem Fehlpass zum Beispiel, dann rufen sie direkt: Mach dir keinen Kopf! Kopf hoch! Einfach weitermachen! Du machst das gut! Du machst das gut!

*

Vincens: «Ich hätte gern diese ganzen Gedanken nicht mehr. Diese Abgründe. Das Wissen, wie schlimm ein Mensch sein kann.

Das Schlimmste ist eigentlich, dass man selber geglaubt hat, dass es richtig ist. Dass man hundert Prozent dahinterstand.

Einmal im Religionsunterricht mussten wir uns aufstellen, und die Lehrerin hat gefragt: Wer ist dafür, dass man seine Kinder schlägt, und wer nicht? Ich war, mit noch einem, als Einziger dafür und hab gelacht über die, die sich in die andere Ecke gestellt haben. Was für Waschlappen.

Meine Mutter hat immer gesagt, dass ich ihre Strafe bin. Und das hab ich geglaubt, ganz fest. Ich hab mich immer schlecht gefühlt, weil ich so frech bin und so ein schlechter Schüler, weil ich einfach eine Enttäuschung bin.

Ich hab noch immer so Tiefs, dass ich nichts esse. Ich hab dann keine Lust, mir was zu machen. Ich stehe vor dem Kühlschrank und sehe die Sachen, die ich mir machen könnte, aber ich will nicht. Ich lege mich wieder ins Bett, höre Musik, gucke Filme, gehe mal mit dem Hund.

Aber ich hab immer diese Hoffnung, dass der Tag rumgeht und der nächste Tag auch, und vielleicht gehen die Tage irgendwann schön rum. Seitdem ich ausgezogen bin, wird es ja eigentlich immer besser. Es fühlt sich nur nicht so an.»

*

An einem Nachmittag fahren wir nach Münchholzhausen. Es ist still im Auto. Vincens sitzt am Steuer, Tess und Clemens auf der Rückbank. In Münchholzhausen steht ein schwarzes Auto an der Strasse.

«Oh», sagt Clemens plötzlich. «Die Eltern sind nicht da, oder?»

Sofort herrscht Unruhe. Die Eltern sollen doch vor zwei Monaten ausgezogen sein. Dann Entwarnung: Das Auto gehört den Nachbarn.

Vincens parkt an der kleinen Strasse am Friedhof. Wir steigen aus.

Leise umrunden die drei ihr altes Elternhaus. Es ist gross, weisse Front, rote Dachziegel und eine Holzterrasse. Ihr Vater hat es bauen lassen, als sie noch im Haus der Brüdergemeinde lebten und mehr Platz brauchten. Hier hatte jedes Kind ein eigenes Zimmer. Clemens mustert immer wieder die Fenster, als hätte er Angst, dass doch jemand da ist. Vincens zieht die Schultern hoch. Im Garten bleiben sie stehen. Vincens sagt, den Apfelbaum hätten sie auf Wunsch der Mutter gepflanzt. Sie wollte verhindern, dass die Nachbarn in die Küche gucken.

Vincens nimmt die Hände aus den Taschen und zeigt auf ein Fenster im Erdgeschoss.

«Da ist die Küche, da der Arbeitsraum vom Vater, da das Wohnzimmer. Da...»

Er zeigt auf den ersten Stock.

«… haben ich, Mama, Papa, Tess und Renatus gewohnt. Ganz oben Clemens, Gregor, Darius und Julian.»

Langsam streunern sie weiter, erst zum Keller, wo sie früher Striche an die Weinflaschen machten, um zu kontrollieren, wie viel die Mutter trank, dann zum Schuppen, in dem noch ein Kinderbett von ihnen steht.

Es ist nicht das erste Mal, dass Vincens wieder da ist. Nach seinem Auszug kam er noch einmal, um Sachen zu holen. Er blieb zum Essen und erkannte schnell, dass ihm nichts gefehlt hatte. Da war keine Verbindung zu seiner Mutter, nichts. Alles, was er brauchte, war bei Julian.

Er kam auch noch mal mit Clemens her, diesmal heimlich, um den Stock zu stehlen, mit dem sie früher geschlagen wurden. Ein schöner Stock voller Verzierungen. Julian hatte wochenlang an ihm geschnitzt. Der Stock sollte für ein Mädchen sein, in das er verliebt war. Nun ist er ein Beweismittel.

*

Hasst du deine Eltern?

Vincens: «Ich glaube, ich müsste sie hassen. Einen Menschen, der einem wehtut, hasst man. Ich denke gar nicht so viel über sie nach. Ich denke über die Sachen nach, die sie mir angetan haben, aber die Personen sind nie präsent. Das bringt mir nichts, über die nachzudenken. Die sind eigentlich gar nicht da. Am Anfang haben sie mir immer noch Sachen ans Auto gehängt. Zettel mit Bibelversen. Ich hab die meistens genommen und dem Julian gegeben, der sollte sich die durchlesen. Dann hab ich sie in den Müll geschmissen. Ich hab mir die nicht angeguckt.»

Er zögert.

«Manchmal fällt es mir schwer zu verstehen, dass ich das bin, dem das passiert ist. Ich sehe das so ein bisschen aus der Ferne.»

Fällt es dir schwer, jemandem davon zu erzählen?

«Das fällt mir eher leicht. Und umso weiter das jetzt geht, umso mehr versuche ich, das nicht mehr direkt zu sagen. Manchmal denke ich mir auch, ich könnte einfach sagen, meine Eltern sind gestorben. Aber das mache ich dann nie.»

Warum willst du es nicht mehr direkt sagen?

«Weil ich denke, dass das überfordert. Und weil das ein schlechtes Bild ist.»

Ein schlechtes Bild?

«Ja, wegen diesem Opfer-Täter-Mässigen. Wenn du ein Opfer bist, dann wirst du ja oft zum Täter, weil du einfach weitermachst, was du gewohnt bist.»

Du glaubst, die Menschen denken, du wirst auch Täter?

Er nickt.

*

Nach fünfzehn Minuten auf dem Grundstück ihrer Eltern biegen die drei auf ihre übliche Fluchtroute ein, über die Strasse, auf den Feldweg. Jeden Tag nach der Schule verbrachten sie im Wald. An den Wochenenden auch mal die Nacht.

«Ab hier war man sicher», sagt Clemens.

Sie laufen einen kleinen Bach entlang, biegen links, dann wieder rechts ab. Tess läuft vorweg. Dann Clemens. Dann Vincens. Clemens erklärt, wie es früher war.

«Jetzt drehte sich alles nur noch um unser Spiel, um den Wald, um das Feuer, das wir machen würden.»

Niemand durfte sie auf dem Weg in den Wald sehen. Das war ihr Spiel.

Clemens: «Vincens hätte jetzt schon keine Lust mehr gehabt.»

Er schaut zu Vincens, macht nach, was sie früher gesagt hätten:

«Komm, Vincens. Heul doch nicht. Ich erschiess dich, wenn du nicht mitkommst.»

Vincens lächelt verlegen.

Hinter der Autobahnbrücke biegen sie in den Wald und laufen einige Hundert Meter den Hang hoch. Bei einem umgefallenen Baum bleiben sie stehen. Sie inspizieren die Stelle.

Clemens: «Jetzt hätten wir ein Lager gebaut. Vincens hätte Feuerholz holen müssen. Wir hätten Feuer gemacht. Harz geschmolzen. Was daraus gebaut. Wasser aus dem Bach geholt. Schlamm gemacht. Aus Lehm was gebaut. Und dann hatten wir unsere eigene Hierarchie. Immer streng nach dem Alter.»

Ganz oben in der Geschwisterhierarchie stand Julian.

Clemens: «Als ich klein war, waren wir seine Privatarmee. Wenn er den Hausflur betrat, sind wir alle aus den Zimmern gekommen und haben ihm salutiert. Das hat uns geholfen. Er war unser Anführer.»

Julian übernimmt auch eine Art Erzieherrolle. Als Clemens und Gregor etwas im Wald angestellt haben, versohlt er ihnen den Hintern. Als sie einen Lachkrampf bekommen und sich nicht beruhigen können, verpasst er ihnen Backpfeifen. Aber er sei immer auf ihrer Seite gewesen, sagt Clemens. Nie auf der der Eltern.

Clemens: «Ich bin auch gar nicht sauer auf ihn. Schon damals nicht. Ich fand das immer cool. Und jetzt denk ich, joa… Gregor und ich haben den Vincens auch nicht besonders geil behandelt. Man hat immer ein bisschen nach unten weitergegeben.»

Tess nickt.

Clemens: «Man hat sich schon umeinander gekümmert, aber man hat auch immer die Schwächeren geärgert.»

Clemens schaut zu Vincens rüber. Vincens reagiert nicht. Er scharrt mit einem Fuss durchs Laub. Sein Blick ist ernst.

*

Vincens: «Also Clemens und Gregor, die haben mich wirklich fertiggemacht. Die haben mich verprügelt. Die haben mir alle möglichen Sachen angetan, weil sie diese Wut rauslassen mussten. Ich war der, an dem man die auslassen konnte.

Ich denke, das hat bei mir viel kaputtgemacht, dass ich nie diese Verbindung mit meinen Geschwistern hatte. Ich wollte die immer. Deswegen habe ich auch danach immer den Kontakt gesucht, habe Clemens immer als grosses Vorbild gesehen.

Es hat lange gedauert, aber zwischen Clemens und mir ist heute dieses… man kann über alles reden und vertraut dem anderen hundert Prozent. Er ist einer der wenigen Menschen – eigentlich der einzige Mensch, bei dem das so ist.

Aber ich hab öfters noch, dass ich denke, er macht irgendwas, nur um mich zu verletzen. Wir reden da auch offen drüber. Wenn ich mich verletzt fühle, sage ich das, und dann sagt er, das war gar nicht so gemeint. Da ist er dann immer komplett souverän. Er geht nie in die Konfrontation. Und dann merke ich, dass das gar nicht mehr so ist, dass ich da überreagiere, dass er das früher auch nicht gemacht hat, weil er so ist, sondern dass das an dem Umfeld lag, aus dem wir kamen.»

*

Juli 2019. Am Abend vor dem ersten Prozesstag.

Vincens startet den Motor der schwarzen C-Klasse. Sie ist die erste grössere Anschaffung in seinem Leben. Das erste Mal, dass er ganz allein die Verantwortung für etwas trägt. Julian hat ihn gepusht, sie zu kaufen.

Er macht das Radio an und fährt los, um Clemens vom Bahnhof abzuholen. Die Landstrassen sind leer, die Felder geflutet vom warmen Abendlicht.

Er erzählt, dass er eine Therapie angefangen hat. Er war bisher viermal da. Der Therapeut sei ein älterer Mann zwischen fünfzig und sechzig. Kräftige Statur, faltiges Gesicht. Aber ganz freundlich.

«Am Anfang war ich ziemlich fertig. Da war mir alles zu viel. Dann fing die Therapie an, und ich hab ihm gesagt, wie schlecht es mir geht, und dann hat er zu mir gesagt: So kann es ja auch nicht weitergehen. Wollen Sie daran was ändern? Dann hab ich gesagt: Ja, deswegen bin ich hier.»

Er schaut kurz zu mir. «Ich will das unbedingt. Ich finde, das ist der einzige Weg, um damit zurechtzukommen.»

Er schaut wieder auf die Strasse.

«Im Januar, da hatte ich Urlaub, fast drei Wochen. In der zweiten Woche hatte ich noch was zu tun. In der dritten Woche haben alle anderen schon wieder gearbeitet. Da bin ich krank geworden, hab mich nur noch ins Bett gelegt, die ganze Woche gekifft. Ich war total fertig, wollte einfach nicht mehr. Wenn ich nichts zu tun hab, dann geht gar nichts mehr.»

Er überlegt.

«Am Bahnhof steh ich da und guck auf die Gleise, und wenn der Zug vorbeifährt, stell ich mir vor, wie sich das jetzt angefühlt hätte. Oder beim Schwimmen, da überlege ich: Spring ich jetzt einfach und tauch ganz lang, vielleicht zu lang, und geh dann unter? Dann geht es aber auch wieder vorbei. Dann kommt die Lola [Julians Tochter] runter, oder dann ist der Pepe [der Hund] da, und dann vergesse ich so was auch schnell wieder. Dann geht es irgendwie weiter. Ich weiss nicht. Ich will ja auch nicht sterben. Der Sinn des Lebens ist zu leben.»

Er zögert.

«Keine Ahnung, was der Sinn des Lebens ist.»

*

Der erste Prozesstag. Im Gericht.

«Vincens L., bitte.»

Während zuvor Clemens befragt wurde, malte Vincens die meiste Zeit auf einem Zettel herum und wippte mit den Beinen. In den Pausen war er still. Nun steht er auf und setzt sich auf den Zeugenstuhl.

Richter: «Vincens ist Ihr einziger Vorname?»

Vincens: «Ja.»

Richter: «Sie sind wie viele Jahre alt?»

Vincens: «Dreiundzwanzig.»

Richter: «Von Beruf, bitte?»

Vincens: «Zahntechniker.»

Der Richter notiert alle Antworten.

Richter: «Von wem gingen denn für Sie vor allem die Strafen aus?»

Vincens: «Vor allem von der Mutter. Von dem Vater gab es zwei, drei Wutreaktionen, an die ich mich erinnere.»

Er erzählt von mehreren Momenten, in denen der Vater plötzlich zuschlug. Als Vincens beim Aussteigen mit der Autotür die Mauer streifte; als er über Gregors Englisch lachte; als sein Schneeanzug dreckig war.

Richter: «Bei Ihnen geht es in der Anklage mit einem Stück Schokolade los.»

Vincens: «Ja, genau. Das war am Morgen. Ich bin in die Küche gegangen, und da lag auf diesem Extratisch eine offene Schokolade.»

Schokolade war Vincens wegen seiner Zöliakie verboten.

«Ich hab mir erst nur ein Stück genommen, und wie das so ist, stopft man sich den Rest dann auch rein. Ich hab gehört, dass meine Mutter aus dem Keller hochkam. Ich hab versucht, schnell alles runterzuwürgen, aber das hat nicht ganz geklappt. Sie war fröhlich und hatte nicht dieses rote, aufgedunsene Gesicht vom Alkohol. Ich hab gedacht: Da war sie einmal gut drauf, und jetzt hab ich alles versaut. Sie fing sofort an zu schreien und zu schlagen. Wie kannst du nur? Warum? Wieso? Und jetzt gehts in den Keller! Ich hab mich gewehrt. Aber sie hat mich gezogen, und dann war die Treppe da, und sie hat immer noch gezogen. Ich hab mich am Geländer festgehalten, und sie stand unten am Treppenansatz und hat immer weiter an meinen Beinen gezogen, und irgendwann konnte ich mich nicht mehr halten. Und bin im Keller aufgewacht.»

Er erzählt, seine Mutter habe ihn am nächsten Tag gefragt, ob er wieder lächeln könne, und dann habe er sie angelächelt.

Richter: «Hier steht, Sie waren zwei Wochen krank.»

Vincens: «Ja. Ich konnte mich nicht mehr richtig bewegen. Ich hatte Beulen im Gesicht und blaue Flecken.»

Er sagt, da und auch in der Szene, als die Mutter gegen Clemens’ Kopf trat, habe er diese Angst gehabt, dass es das jetzt einfach gewesen sei.

Der Richter schaut auf und fragt, ob das heisse, dass er dachte, sie würden diese Situationen nicht überleben.

Vincens bejaht. Der Richter zögert eine Weile, dann macht er weiter.

Richter: «Ungefähr ein Jahr später muss das mit dem Händewaschen gewesen sein.»

Vincens erzählt, wie sie alle zusammen im Wohnzimmer sassen, weil Gäste zu Besuch waren. Er sei aufgestanden und habe sich in der Küche die Hände gewaschen, obwohl sie die Regel hatten, dass man das dort nicht tun solle.

Vincens: «Darunter stand eine Schüssel. Aber das hab ich nicht richtig realisiert. Meine Mutter sagte, dass das eine Suppenbrühe für den Vater war. Ich wusste gleich, ich hab einen Fehler gemacht.»

Richter: «In der Spüle stand eine Schüssel, und durch das Händewaschen ist da Wasser rein?»

Vincens: «Genau. Und es war ganz klar, dass man sich die Hände nicht in der Küche waschen darf. Genau wegen so Sachen. Und dann musste ich mich in der Küche ausziehen, auf den Boden legen, und ja...»

Richter: «In der Anklage steht, die Gäste hätten zugeschaut?»

Vincens: «Naja… zugehört. Die Schmerzen waren nicht so schlimm. Aber wie dumm kann man sein, sich die Hände in der Küche zu waschen? Wie peinlich das war, vor den Gästen.»

Richter: «Mit was hat sie Sie geschlagen? Kochlöffel? Hand? Stock?»

Vincens: «Ich weiss es nicht genau.»

Richter: «Ich hab von Ihrem Bruder gehört, dass solche Bestrafungen oft damit begannen, dass geschrien wurde, und sich das dann steigerte bis zum Schlagen. War das in dieser Situation auch so?»

Vincens: «Nein. Dieses Mal habe ich mich nicht gewehrt. Es war ja mein Fehler.»

Richter: «Springen wir einen Punkt weiter: aus dem Bett gezogen werden nach dem Elternabend.»

Vincens: «Das kam mehrmals vor. Man ist im Halbschlaf, halb da, und es ist alles so irreal. Am nächsten Morgen wacht man auf und ist glücklich, weil man weiss, jetzt ist alles vorbei. Jetzt ist alles wieder gut.»

Richter: «Wer wars denn?»

Vincens: «Ich weiss es nicht genau. Ich denke, es war meine Mutter. Wenn ich nachts Albträume habe, dann sehe ich nie den Vater vor meinen Augen. Ich sehe nur die Mutter.»

Richter: «Leiden Sie bis heute an Albträumen?»

Vincens: «Ja. Manchmal gibt es Nächte, in denen ich Albträume hab. Es ist aber nie so, dass sie mich haut oder so. Sondern dass sie mich umarmt. Oder dass sie sagt: Ich hab dich lieb. Das ist einfach das Verkehrteste auf der Welt. Das ist die grösste Lüge.»

Vincens spricht ganz sanft und wutlos. Je länger er befragt wird, desto stiller wird es im Raum. Clemens hält es irgendwann nicht mehr aus und verlässt wieder den Saal. Die Mutter weint fast ununterbrochen. Ganz am Ende, als der Richter Vincens gerade entlassen hat und der sich zurück an seinen Platz setzt, räuspert sie sich plötzlich.

«Entschuldigung. Vincens. Vincens, ich wollte dir sagen, dass es mir leid tut. Sehr leid. Und dass ich es auch bereue, was ich getan habe. Und auch wenn du es nicht hören willst oder vielleicht auch gar nicht glauben kannst, aber ich habe dich lieb.»

Kurz herrscht absolute Stille. Dann ergreift der Vater das Wort.

«Es tut auch mir leid, wenn ich öfter überreagiert habe.»

Vincens starrt geradeaus. Seine Hand zittert.

Drittes Kapitel: Gregor


September 2018. In der Kanzlei der Anwälte.

Clemens rückt auf seinem Stuhl nach vorne.

«Ich hab eine Frage. Ein Anklagepunkt betrifft ja den Gregor. Hat der jemals was vom Gericht bekommen? Wie ist das: Jemand wird Opfer einer Straftat und sitzt zu Hause? Oder hat der irgendwann abgelehnt?»

Anwältin: «Gregor hat gesagt, er will nichts sagen. Gregor ist auch nicht geladen, weil er gesagt hat, er nutzt sein Zeugnisverweigerungsrecht. Ich mein...»

Sie wägt ab.

«…formal betrachtet ist das nicht richtig. Eigentlich müsste er geladen werden und dann vor Gericht sagen: Ich will nicht.»

Clemens: «Kann man das durchsetzen, dass er das muss?»

Die Anwältin schaut Clemens skeptisch an. «Wollen wir das?»

«Ja. Wir wollen das», sagt Clemens nachdrücklich. «Natürlich wollen wir das. Das ist ja nicht auf Gregors Kosten, dem passiert ja nichts. Der hat Tess gesagt, dass er sich das angucken will, vorbeischauen, so als Unbeteiligter.»

Anwältin: «Den stresst das.»

Clemens: «Selbst wenn es ihn stresst. Was ihn eigentlich stresst, ist seine Kindheit und nicht, dass wir das jetzt aufwühlen. Immer wenn ich mit ihm rede, klingt das so. Eigentlich unterstützt er es nicht, aber ein bisschen, und dann am nächsten Tag hört er sich wieder ganz anders an. Also ich finde es irgendwie besser, wenn er offiziell sagen muss, dass er nicht aussagt. Warum macht man das nicht?»

Die Anwältin schaut hilfesuchend zu ihrem Kollegen. Der zuckt mit den Schultern.

*

Über die drei Jahre hinweg, die ich seine Geschwister begleite, kontaktiere ich Gregor mehrmals und frage, ob auch er mir seine Sicht auf den Prozess und seinen Weg berichten würde. Zunächst antwortet er, er wolle es sich überlegen, später, er habe keine Zeit, irgendwann reagiert er nicht mehr. Einmal taucht er plötzlich auf Julians Hof auf. Es ist im September 2018, der Tag, an dem der Prozess eigentlich hätte starten sollen, dann aber verschoben wird.

Julian, seine Frau Joana, die kleine Lola, Natascha und Vincens’ Mitbewohner sitzen an einer langen Tafel auf der Dachterrasse. Vincens und Clemens liegen daneben auf zwei Liegestühlen. Tess hockt zu ihren Füssen. Die Stimmung ist gut. Es gibt Musik und Federweisser. Ein Joint wird rumgereicht.

Gregor kommt unangekündigt. Die Haustür steht offen. Er ist gross, blond, trägt Undercut.

Er grüsst kurz in die Runde, setzt sich dann neben Clemens’ Freundin Natascha. Die eine Stunde, die er da ist, redet er fast nur mit ihr. Einmal versucht Clemens, ihm über den Tisch hinweg eine Frage zu stellen, aber es ist laut. Gregor hört ihn nicht.

*

Am nächsten Tag sitzen Tess, Clemens und Joana um den kleinen Tisch in der Küche. Vincens lungert in der Ecke der Couch. Er hat die Beine angezogen und erzählt, als er letztens mit Gregor gesprochen habe, habe der verkündet, er könne keine tiefe Beziehung mehr mit ihm eingehen. Mit niemandem, der nicht so einen Glauben habe wie er.

Tess: «Aber mit den Eltern kann er das oder was?»

Clemens überlegt. «Man will ja den Kontakt halten, falls irgendwas schiefgeht. Dann will man eingreifen können. Ich will nicht, dass er der isolierte Heilige von uns Brüdern ist.»

Vincens: «Er hat sich schon verändert. Aber er ist mein Bruder, und er hat dasselbe erlebt wie wir. Jeder geht damit anders um. Ich würde ja auch nicht den Darius verstossen, weil der so viele Drogen nimmt. Wenn Gregor jetzt anfangen würde, seine Kinder zu schlagen, ist das natürlich was anderes.»

Joana: «Naja, die Frage ist ja: Wo fängt es an? Fängt es erst beim Schlagen an? Es gab schon früher Tendenzen, bei denen ich mich gefragt habe, ob sich da etwas fortsetzen könnte. Dieses, dass du immer seine Wahrheit annehmen musst, ansonsten bist du der letzte Mensch. Ich hab auch nie erlebt, dass er sich in irgendeiner Art damit auseinandergesetzt hätte, ausser zu sagen, er hat denen vergeben.»

Clemens ergänzt, Gregor habe auch die Eltern um Vergebung gebeten. «Dafür, dass er so gemein war oder so böse Gedanken hatte.»

Tess schaut ungläubig: «Wenn es irgendwann bei mir so weit kommen sollte, dass ich in diese Richtung gehe, klatscht mich bitte gegen die Wand.»

Clemens: «Der ist halt superextrem. Das war der aber schon immer. Auch mit seinem Kung-Fu und so. Da konnte der diese Liegestütze an der Wand machen. Im Handstand. Wenn ich mitbekommen würde, dass Gregor seine Kinder schlägt, würde ich das sofort zur Anzeige bringen. Sofort melden.»

*

Noch vor ein paar Jahren waren Gregor und seine Brüder enger. Alle paar Monate kehrten sie zusammen in den Wald zurück, machten wieder Feuer, schlichen wieder um die Häuser. Sie erzählen, Gregor sei früher auch gar nicht so gläubig gewesen. Viel weniger als Clemens zum Beispiel. Zuletzt habe Gregor sogar gezweifelt. Zumindest bis Australien.

Australien ist für alle der Wendepunkt in ihrer Beziehung zu Gregor. Der nimmt dort an einer sogenannten Jüngerschaftsschule der evangelikalen Organisation «Jugend mit einer Mission» teil. Über Monate werden dort junge Menschen in einer Art Glaubens-Intensivkurs zu Missionaren ausgebildet. Sie sollen später bei Auslandseinsätzen andere von ihrem fundamentalistischen Glauben überzeugen.

Clemens: «Du bist dort in so einer Jugendfreizeitstimmung. Und dann erleben die da die ganze Zeit Wunder. Dem einen fehlen noch fünfzig Dollar, um die Monatsgebühr zu bezahlen, dann beten alle zusammen, und am nächsten Morgen liegt das Geld bei ihm unter dem Kopfkissen. Unglaublich! Gott gibt einem immer genau das, was man braucht! Man weiss natürlich, dass es jemand anders da hingelegt hat, aber es ist trotzdem ein Wunder. Es kann ja auch ein Wunder sein, dass jemand anderes dazu bewegt wurde.»

Die Organisation «Jugend mit einer Mission» steht immer wegen ihres radikalen, fundamentalistischen Weltbilds in der Kritik. In Werbevideos inszeniert sie ihre Einsätze als Abenteuerreisen, die persönliches Wachstum und den Dienst an Gott in den Fokus stellen. Teilweise werden junge Menschen später in die gefährlichsten Regionen der Welt geschickt. In Ländern wie Afghanistan oder Jemen missionieren sie unter Lebensgefahr. In der Vergangenheit wurden Videos publik, in denen den Schülern suggeriert wurde, dass es wert sei, im Einsatz zu sterben.

Laut seinen Geschwistern verkündet Gregor nach seinem Australienaufenthalt, geheilt worden zu sein und den Eltern vergeben zu haben.

*

Als Vincens und Clemens am Morgen des ersten Prozesstages, im Juli 2019, vor dem Saal warten, kommt auch Gregor mit seiner Frau die Treppe hoch. Oben angekommen, bleibt er stehen. Unschlüssig schaut er immer wieder zu ihnen. Als sei er unsicher, ob er hingehen solle.

Auch Clemens und Vincens registrieren seine Anwesenheit. Während sie weiter mit den Anwälten sprechen, werfen sie verstohlene Blicke in seine Richtung. Auch sie sagen nichts.

Dann, nach einer Minute, gehen Gregor und seine Frau weiter.

Als der Prozess beginnt, setzt sich Gregor zu den Zuschauern. Er schliesst dadurch aus, später im Prozess aussagen zu können, denn im Gegensatz zu Nebenklägern dürfen Zeugen erst nach ihrer Aussage den Prozess verfolgen. Die meiste Zeit sitzt er mit gesenktem Kopf da, hört zu.

Als Clemens während seiner Aussage rausrennt, folgen ihm nicht nur die Anwälte, Vincens und Natascha. Auch Gregor steht auf und läuft hinterher. Er bleibt etwas abseits der anderen stehen und beobachtet hilflos, wie Clemens versucht sich zu fangen.

*

Julian: «Ich hab Gregor geschrieben, dass ich es stark fand, dass er heute da war, und er hat geschrieben, für ihn sei das selbstverständlich. Er hat sogar gefragt, warum es mich überrascht, dass er da war. Dann hab ich geschrieben: weil ich seinen Umgang damit nicht nachvollziehen kann. Dass ich finde, dass er es sich leicht macht. Da hat er geschrieben, nö, dass er das alles gar nicht leichtnehme. Dass er nur weiss, dass sein Richter Gott ist und dass er deshalb da keine Gerechtigkeit sucht.»

*

Am zweiten Prozesstag ist Gregor wieder da. Am Tag der Urteilsverkündung dann plötzlich nicht mehr. Ungefähr zu selben Zeit findet Clemens ein Youtube-Video. Es zeigt einen Online-Kindergottesdienst, den Gregor zusammen mit seinem Sohn moderiert. Die beiden sitzen auf einer Holzbank im Garten des Hauses der Eltern in Münchholzhausen. Im Hintergrund sind eine blühende Forsythie und gestapelte Baumstämme zu sehen. Gregor lebt nun mit Frau und Kindern im Haus seiner Kindheit.

*

Ich rufe Gregor noch ein letztes Mal an, um mit ihm zu besprechen, ob und inwiefern er in diesem Text vorkommt. Dieses Mal reden wir eine Weile. Er ist höflich und bietet von sich aus an, dass ich seinen echten Namen benutze. Einzelne Passagen des Textes möchte er nicht kommentieren, und er lehnt ab, ausführlicher von seinem Weg zu berichten. Als ich frage, warum, sagt er, er glaube nicht, dass sein Weg für andere Sinn machen würde.

«Wenn man nicht an eine grössere Macht glaubt, ist das nicht zu begreifen.»

Er sagt, seine Geschwister seien dafür das beste Beispiel.

«Meine Geschwister kennen die Bibel in- und auswendig. Sie sind mit ihr gross geworden. Sie kennen Vergebung, wissen, was das bedeutet. Aber selbst meine Geschwister können nicht verstehen, dass ich Kontakt mit meinen Eltern habe und sagen kann: Ich habe vergeben.»


Viertes Kapitel: Tess


September 2018.

Es ist früh am Morgen. Die Sonne scheint durch das Küchenfenster. Während Julian Kaffee macht, setzt sich Tess an den Tisch zu Vincens und Clemens. Sie trägt ein weites T-Shirt, auf dem «2 words, 1 finger» steht.

«Ihr habt nicht viel geschlafen, hab ich gehört», sagt Julian.

Tess: «Na, Vincens und Clemens haben gut geschlafen, nur ich nicht.»

Clemens zu Tess: «Aber mich hast du nicht gestört.»

Mit einem Augenzwinkern fügt er hinzu: «Die Leute bei mir in Kassel vor der Haustür, die schreien lauter.»

Tess lacht. Als sie etwas später den Raum verlässt, um ihr Brillenputztuch zu holen, erzählt Clemens, was passiert ist.

«Sie hat im Schlaf geschrien.»

Er macht sie leise nach: «Ich hab nichts getan. Ich war es nicht.»

Clemens sieht betroffen aus.

«Wenn das so im Unterbewussten ist, dann muss es ja noch viel tiefer sitzen.»

*

Nach ihrem Auszug verliert Tess den Kontakt zu ihren Brüdern. Erst durch das Verfahren nähern sie sich wieder an. Die Tage, die sie rund um den Prozess gemeinsam bei Julian verbringen, sind die ersten dieser Art seit vielen Jahren. Die Brüder wissen um die psychische Verfassung ihrer Schwester, von den Psychiatrieaufenthalten, der Diagnose dissoziative Identitätsstörung, umgangssprachlich auch multiple Persönlichkeitsstörung genannt, aber jetzt ist es das erste Mal, dass sie sie damit erleben.

*

Am Abend essen alle zusammen auf der Dachterrasse. Lola schnappt sich Vincens und spielt mit ihm Schmetterling. Als er irgendwann nicht mehr mag und Lola ihn auch nicht mit Betteln weiter dazu bewegen kann, fängt sie an zu weinen und dann aus voller Kehle zu schreien.

Während Lola schreit und schreit, wird Tess am anderen Ende des Tisches immer blasser. Sie stockt und starrt apathisch in die Ferne, steht dann abrupt auf und geht rein. Als sie wiederkommt, setzt sie sich nicht zurück an den Tisch, sondern daneben auf den Boden, mit dem Rücken an das Geländer der Terrasse. Mit ihrer Hand knetet sie ein Kühlpack.

Die anderen beobachten sie.

«Ein Kühlpack?», fragt einer von ihnen verwirrt.

«Ja», sagt Tess knapp, ohne ihren Blick abzuwenden. Ihr Ton ist unnahbarer als sonst.

Die anderen tauschen betretene Blicke aus, essen dann weiter.

Nach zwanzig Minuten steht Tess auf, setzt sich zurück an den Tisch und unterhält sich weiter, als wäre nichts gewesen.

Später an diesem Abend legt sie dann ein Büchlein mit dem Titel «Vom Körperhaus und seinen Bewohnern – Was bedeutet es, multipel zu sein?» auf den Tisch. Julian nimmt es und liest es von vorne bis hinten. Manchmal schaut er kurz hoch und beobachtet Tess, wie sie redet, wie sie sich bewegt. Wenn sich ihre Blicke treffen, lächelt er.

Das Buch ist im Grunde ein Kinderbuch. Die Autorin, die selbst an einer dissoziativen Identitätsstörung leidet, hat es für ihre Patenkinder geschrieben, um ihnen zu erklären, was es bedeutet, wenn sich mehrere Persönlichkeiten einen Körper teilen.

Sie vergleicht den menschlichen Körper mit einem Haus. Bei einem gesunden Menschen habe dieses Haus einen Bewohner, die Seele. Seele und Körper seien ein Team, sie spürten sich gegenseitig und achteten aufeinander, wenn es dem anderen nicht gut gehe.

«Nur manchmal geht es einer Seele im Körperhaus so schlecht, dass sie es alleine nicht mehr schafft, auf sich und den Körper achtzugeben und eine schwere Situation zu überstehen. In so einem Moment müssen andere Seelen mit ins Körperhaus einziehen und dieser einen Seele helfen, das Leben weiterhin zu meistern. So kommt es, dass es dann in diesem einen Körperhaus so etwas wie eine kleine Familie gibt. Es ist eine Gemeinschaft, die zusammenlebt und die Aufgaben teilt, denn zusammen ist man ja immer stärker als alleine.»

Die Seelen, die nun mit eingezogen sind, seien ganz unterschiedlich. Es gebe Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene verschiedenen Alters. Jeder habe einen anderen Charakter, andere Vorlieben, Fähigkeiten und auch ein eigenes Gedächtnis.

Wie auch bei Menschen, die nur einen Seelenbewohner in ihrem Körperhaus haben, könne immer nur eine Seele auf einmal nach draussen vor die Tür gehen und mit der Welt interagieren. Alle anderen müssten drinnen warten.

«Für manche Seelen innen drin ist das so ein bisschen wie schlafen. Wer von ihnen drinnen ist, kann deshalb auch nicht wissen, was die Seele an der Tür gerade macht. Manche Seelen machen sich aber auch einen Spass daraus, durchs Körperfenster zu luschern, obwohl sie gar nicht an der Reihe sind. Das kann dann schon mal stören. Leider kommt es auch ab und zu vor, dass die Seelen innen drin so viel Lärm machen, dass die Seele an der Tür das hört. Das ist für diese Seele an der Tür in dem Moment besonders schwierig, weil sie dann nicht mehr so gut mitkriegen kann, was draussen gesagt wird und passiert.»

*

Tess hat für jede ihrer Persönlichkeiten ein Kärtchen gemalt. Sie setzt sich auf das Bett und breitet sie vor mir aus, als wäre es Memory.

«Auf der Vorderseite ist immer der Name, und hinten kann jeder selbst entscheiden, was da drauf soll. Etwas, das für einen wichtig ist oder was man mag.»

Sie wirkt heute schüchterner als sonst. Sie blinzelt viel und kichert, wenn ihr meine Fragen unangenehm sind. Manchmal schaut sie rechts an mir vorbei, als würde sie dort jemandem lauschen.

Sie zeigt auf eine Karte.

«Das bin ich.»

Sie strahlt mich an. Auf der Karte ist ein Fuchs.

Warum ein Fuchs?

«Ach.» Sie zuckt mit den Schultern. «Irgendwie fand ich die Vorstellung, einen Fuchs als Beschützer zu haben, cool.»

Sie nimmt eine andere Karte in die Hand. Auf der Vorderseite steht «Tess». Auf der Rückseite ist ein rotes Puzzlestück.

«Tess ist sechsundzwanzig. Tess ist erst viel später als ich gekommen. Wir brauchen beide sehr viel Struktur, und emotional sind wir beide nicht so gut, würde ich sagen.»

Sie lacht.

«Tess ist sehr funktional und viel im Aussen. Meine Aufgabe ist schon auch, nach aussen zu funktionieren, aber auch viel Therapie zu machen.»

Sie erzählt, bei ihr seien es insgesamt drei Persönlichkeiten, die sich vorne abwechseln, also für die Menschen um sie herum sichtbar sind. Die Unterschiede seien Nuancen, merken könnten das nur Personen, die sie sehr gut kennen.

Karte für Karte gehen wir die Persönlichkeiten durch. Einige Namen habe ich hier auf ihren Wunsch geändert.

Da ist Maya, ein Jahr alt, die als Erste von allen entstanden ist.

«Sie spricht nicht, aber man kann sie fühlen und wahrnehmen. Und irgendwie ist das…»

Sie zeigt auf die blaue Rückseite von Mayas Karte.

«… so ein Ausdruck davon.»

Da ist Mirko, fünfzehn Jahre alt. Er sei still und ruhig, sagt Tess. Ein bisschen nerdig.

Da ist Georg, dreiundzwanzig Jahre alt, ein Beschützertyp.

Das ist Stefan, zwei Jahre alt. Baggerliebhaber.

Warum sind so viele männlich?

«Eigentlich ist es total logisch», sagt Tess. «Wir sind in einem Umfeld gross geworden, wo Mädchen einfach keinen Wert haben. Mädchen sind das schwache Geschlecht. Und ist doch klar, dass du, wenn du dann Gewalt erlebst, lieber ein Junge sein möchtest und etwas älter und stärker, als du gerade rein körperlich bist.»

Insgesamt sind es ein Dutzend Karten. Es gibt Karten, auf denen kein Name steht, und Karten, die nur dunkel angemalt sind. «Täterloyale Anteile», sagt Tess.

*

«Richter Grün ist dran.»

Die Frau im Türrahmen des Besprechungsraums hält Anwältin Maike Koch ein Telefon hin.

Koch entschuldigt sich bei den Geschwistern und geht zum Telefonieren ins Nebenzimmer. Als sie zurückkommt, sagt sie: «Der Richter will den Prozess zwei Tage ausweiten. Und Sie...»

Sie dreht sich zu Tess.

«...Sie will er nicht sprechen. Auch die Staatsanwaltschaft nicht.»

Tess schaut irritiert.

«Warum nicht?»

Anwältin: «Weil sie keine Geschädigte sind.»

Als Tess empört auflacht, sagt die Anwältin schnell: «Im Sinne der Anklage. Im Sinne der Anklage.»

Sie meint: Obwohl Taten gegen Tess nicht, wie bei Julian, per se verjährt wären, gibt es keinen Anklagepunkt, der sie betrifft.

Später, als Maike Koch schon gegangen ist, kommt ihr Kollege Thorsten Kahl noch einmal auf Tess zu. Er sagt, vielleicht könne er ja versuchen, dass Tess doch in die Anklage aufgenommen werde. Oder wenigstens wie Julian als Zeugin gehört werde.

Tess schaut ihn hoffnungslos an.

«Mein Problem ist, dass ich mich nicht mehr an alles erinnere. Aber die Diagnose, die ich habe, sagt, dass die Ursachen in der frühesten Kindheit liegen müssen. Sonst spaltet man sich nicht so auf.»

Sie sieht niedergeschlagen aus.

Clemens: «Hast du das selber geschrieben?»

Er zeigt auf einen Zettel, der auf Tess’ Schoss liegt. Auf ihm eine Zeitleiste mit Fakten aus ihrer Kindheit zur zeitlichen Orientierung.

Tess: «Ja.»

Clemens: «Ich wäre nicht in der Lage gewesen, so was zu schreiben.»

Tess lächelt milde.

Kahl: «Wissen Sie, wie viele Abspaltungen Sie durchlebt haben?»

Eine multiple Persönlichkeit entsteht meist durch schwere traumatische Erlebnisse in der frühen Kindheit. Die Wissenschaft sieht darin eine Schutzreaktion der Psyche: Um ein für sie schier unerträgliches Erlebnis auszuhalten, spaltet sich die Psyche auf, sodass sich das Kind mit einem Teil seines Bewusstseins geistig aus der Situation herauslösen kann, während eine andere Persönlichkeit den Schmerz, die Angst und die Scham erlebt. Ein Kind kann unendlich viele solcher Abspaltungen erleben, bei jeder schwer traumatischen Erfahrung wieder, sodass sich immer neue Persönlichkeiten bilden, die fortan nebeneinanderher existieren.

Tess: «Ich weiss bisher von acht. Aber das ist noch lange nicht alles.»

Sie zögert einen Moment, holt dann tief Luft und sagt: «Ich hab lange an der Diagnose gezweifelt. Ich war ja jetzt noch mal in der Klinik und hab extra noch eine Diagnostik machen lassen, weil ich die Ursachen dafür bei mir nicht verstehe. Da müssen so früh so gravierende Sachen passiert sein. Und da kann mir keiner was sagen.»

*

Später erklärt sie: «Mein Problem ist, dass ich zwar Erinnerungen an das habe, was meinen Geschwistern passiert ist, aber kaum Erinnerungen an selbst erlebte Gewalt. Natürlich traumatisiert einen Gewalt, die anderen zustösst und die man miterlebt. Gar keine Frage. Wenn man einen Autounfall sieht, kann das einen ja auch traumatisieren, obwohl man nicht direkt beteiligt ist. Trotzdem fehlt mir die Erklärung dafür, warum wir viele geworden sind. Dafür reicht es einfach nicht. Damit man diese Diagnose bekommt, müssen in der frühen Kindheit krasse Sachen passiert sein. Und wenn jetzt auch noch meine Geschwister sagen, dass sie wenig Gewalt gegen mich erlebt haben, dann wird es komisch. Es gibt ein paar Erinnerungen, wo auch ich vom Vater Prügel bekommen habe. Okay. Aber das reicht nicht aus. Von der Mutter gab es schon etwas mehr. Das reicht locker aus, um eine posttraumatische Belastungsstörung zu kriegen, Depressionen und andere Störungen. Aber nicht um sich aufzuspalten. Da muss einfach mehr sein. Und ich würde es gerne wissen.»

Tess sitzt auf der Dachterrasse und raucht eine Zigarette. Im Sonnenlicht glitzern die Narben ihrer Selbstverletzungen an Armen und Beinen.

In seiner ersten Vernehmung bei der Polizei sagte der Vater, Tess und Renatus habe er nie geschlagen. Als das in der Kanzlei der Anwälte zur Sprache kam, verzog Tess ihr Gesicht. Als ich sie nun danach frage, antwortet sie lange nicht, zwanzig, dreissig Sekunden verstreichen.

«Es gibt bei uns eine extreme Angst vor ihm. Viel, viel mehr als vor der Mutter. Es geht schon eher Richtung Todesangst.»

Sie redet jetzt sehr leise.

«Aber ich will auch keine Behauptungen aufstellen, weil ich nichts schlimmer machen möchte, als es sowieso schon ist. Weisst du, was ich meine? Ich will da auch nichts reininterpretieren.»

Wie fühlt sich das an, dieses Unwissen? Ist es im Grunde eine Erleichterung, oder ist es schlimmer?

Tess: «Es ist schlimmer. Wie soll man Dinge verarbeiten, die man nicht weiss?»

Sie schweigt eine Weile und sagt dann:

«Aber es gibt Bereiche in meinem Leben, die schwierig sind, was eigentlich darauf hinweist, dass noch gewisse Dinge im Raum stehen könnten. Und das macht es auch nicht leichter.»

Sexuelle Bereiche?

Tess: «Ja. Extrem schwierig.»

*

Als ich ein paar Tage später in die Küche komme, diskutieren die Geschwister. Tess sitzt mit angezogenen Beinen am Tisch, Clemens hockt auf der Couch, Julian steht.

Als Julian meinen fragenden Blick sieht, sagt er:

«Es geht darum, ob man auf eine Erinnerung stösst, die mit sexuellen Geschichten zu tun hat.»

Er dreht sich wieder zu seinen Geschwistern.

«Ich kann mich wirklich an keine Gewalt vom Vater Tess gegenüber erinnern. Ich bin mir total sicher. Ich traue meiner Erinnerung extrem, und die geht auch sehr weit zurück. Auch diese Alltagsgewalt, wie eine Ohrfeige oder eine Kopfnuss, hab ich bei ihr nie beobachtet.»

Clemens zu Tess: «Ich kann mir auch vorstellen, dass bei dir wirklich nichts mit dem Vater war. Also nichts Grosses. Also klar, er hat dich ja auch gequält, rein von den Regeln und allem.»

Tess: «Aber warum ist dann so eine Todesangst vor ihm?»

Julian: «Das finde ich auch komisch.»

Tess: «Der wollte einige Monate beruflich in meine Stadt und hat gefragt, ob er vorbeikommen könne. Da war ich kurz davor wegzuziehen. Ich bin Amok gelaufen.»

Clemens: «Der war ja der Chef. Meine ganze Kindheit lang war das der grösste Gegner. Die Mutter hat mich wahrscheinlich öfters gehauen als er, aber vor ihm hatte ich die riesengrosse Angst. Er hat ja die Regeln festgesetzt.»

Er hält kurz inne und fügt dann schnell hinzu: «Und natürlich kann auch sein, dass da irgendwas war. Ich will dir das ja nicht absprechen.»

Tess: «Nein, du, es muss nicht sein, was nicht ist. Ich bin da nicht scharf drauf.»

Clemens: «Es kann auch sein, dass die Mutter dich so geprägt hat.»

Julian stimmt zu: «Dass sie dich immer angeschrien hat, du sollst nie heiraten. Da hat sie ihre Angst vor ihm auch auf dich übertragen. Das muss nicht die Erklärung sein, aber das ist auf jeden Fall auch passiert. Ganz viel.»

*

Tess: «Das hört sich dann manchmal an wie: Du willst unbedingt, dass dir noch was Schlimmeres passiert ist. Aber das will ich natürlich überhaupt nicht.»

Sie lacht verzweifelt.

«Verstehst du den Konflikt, der dahintersteckt? Man hat da so eine Diagnose, bei der klar ist, dass sehr krasse Sachen passiert sein müssen, und du denkst: Aber so krasse Sachen sind mir gar nicht passiert. Was stimmt jetzt?»

*

Vor ein paar Jahren bekommt Tess auf Facebook eine Nachricht von einem Onkel. Er schreibt, ihm tue so leid, was ihr passiert sei. Als sie nachfragt, was er damit meine, sagt er, er habe gehört, dass sie von jemandem missbraucht worden sei. Tess will wissen, von wem er das gehört habe. Er verweist sie an eine Tante.

Tess zeigt mir E-Mails, in denen die Tante schreibt, sie habe das von der Oma, und die Oma habe es von Tess’ Mutter. Die Mutter soll diesen angeblichen Missbrauch als Grund für Tess’ psychische Probleme genannt haben. Von einem konkreten Täter habe sie nicht gesprochen, nur gesagt, dass es im Gemeindehaus gewesen sei, in dem sie eine Zeit lang wohnten, und dass der Täter schon tot sei.

Tess ist unsicher, wie viel Bedeutung sie dieser Geschichte beimessen soll. Sie kann sich auch vorstellen, dass ihre Mutter das erzählt, um nicht selbst für Tess’ Schwierigkeiten verantwortlich gemacht zu werden.

Zurück in der Küche, sagt Julian, er habe an dieser Geschichte immer komisch gefunden, dass die Mutter erst Jahre nach Tess’ Auszug angefangen habe, davon zu erzählen.

Kleinlaut sagt Tess, es könne sein, dass sie das selbst ausgelöst habe.

«Noch mal!», sagt Julian.

Tess sagt, vor ein paar Jahren habe sie sich plötzlich daran erinnert, wie sie in Allendorf, als sie im Haus der Brüdergemeinde wohnten, vor einem Mann weggelaufen sei und sich unter dem Bett versteckt habe. Die Erinnerung sei nicht ganz klar gewesen, sie wisse nicht, wie der Mann ausgesehen habe. Die Sequenz endete damit, dass er unter das Bett guckt und sagt, sie solle rauskommen.

Tess sagt, es könne sein, dass sie der Mutter von dieser Erinnerung erzählt habe.

«Irgendein Typ?», fragt Julian.

«Ja», sagt Tess. «Es gibt kein richtiges Bild. Ich weiss nur, dass der irgendwie komisch ist und dass ich vor dem weglaufen möchte und mich tot stelle unterm Bett und hoffe, er findet mich nicht.»

Tess sagt, sie habe so ein Gefühl, dass es ein Sonntag war.

Julian überlegt. An Sonntagen sei wegen des Gottesdienstes die Brüdergemeinde von morgens bis abends voller Menschen gewesen. Achtzig, neunzig Leute.

Julian: «Da waren schon komische Typen am Start.»

Tess: «Und man konnte unten durch den Keller in unser Haus und oben durch die Verbindungstür.»

Julian: «Es war auch schon eine Atmosphäre des Vertrauens. Wenn irgendeiner da die Treppe hochgegangen wäre, hätte ich mir nichts gedacht. Nichts. Das ist ein grosses Haus mit vielen Stockwerken, mit vielen Räumen, auch einigen zurückgezogenen Räumen, wo man ganz gut abchecken könnte, wer gerade wo ist. Eigentlich müsste man sich das Haus angucken.»

Tess: «Ich würde da gerne hingehen.»

*

Das Haus der Brüdergemeinde liegt in Allendorf, einem Stadtteil von Giessen. Vincens parkt auf der anderen Strassenseite. Er, Tess und Clemens steigen aus.

Die ehemalige Gaststätte ist in grellem Weiss gestrichen und besteht aus einem Wohnhaus und einem etwas flacheren Anbau, in dem sich nun der Gemeindesaal befindet.

Julian hat erzählt, dass wieder jemand im Wohnhaus lebe, aber gerade ist niemand da.

Die drei laufen über den gepflasterten Hof. Es gibt nicht viel zu sehen. Das Grundstück wirkt karg, unpersönlich. Die Jalousien sind unten. An einer Wand wurde ein kleiner Schaukasten mit den Gottesdienstzeiten angebracht. An einer anderen Wand ein Schild:

«Wer Durst hat, der komme. Wer will, der trinke vom Wasser des Lebens! Er bekommt es umsonst.»

Tess zuckt mit den Schultern, dann fahren sie wieder.

*

Ohne konkrete Erinnerungen haben die Anwälte keine Möglichkeit, Tess noch in die Anklage aufzunehmen. Sie kann somit nicht als Nebenklägerin auftreten und auch keinen Schadensersatz fordern.

Im Juni 2019, kurz vor Beginn des Prozesses, erreicht Tess trotzdem eine Ladung vom Gericht. Der Richter hat kurzfristig beschlossen, sie nun doch als Zeugin zu hören.

*

Richter: «Kommen Sie rein! Nehmen Sie Platz! Gerade angekommen?»

Tess schaut noch einmal zu ihrer gesetzlichen Betreuerin, einer jungen Frau mit Hoodie und ermutigendem Gesichtsausdruck, dann setzt sie sich zögerlich auf den Zeugenstuhl. Vor sich auf den Tisch legt sie ein paar Blätter mit Notizen. Sie hat sie mit ihrer Therapeutin vorbereitet.

Richter: «Theresia L. ist Ihr voller Name?»

«Ja.»

«Sie sind heute wie viele Jahre alt?»

«Dreissig.»

«Von Beruf, bitte?»

«Erwerbsunfähig.»

Der Richter schaut auf.

«Gut. Das ist kein Beruf. Haben Sie einen Beruf erlernt?»

Tess: «Ja. Steuerfachangestellte.»

«Steuerfachangestellte und zurzeit erwerbsunfähig», wiederholt der Richter und schreibt mit. «Möchten Sie Angaben machen?»

«Ja.»

Er beginnt mit harmlosen Fragen: Wann sie zu Hause ausgezogen ist? Mit achtzehn. Wohin sie dann zog? Erst zu Freunden, dann in ein therapeutisches Wohnprojekt. Wann sie ihre Ausbildung anfing? Mit fünfundzwanzig.

Tess spricht so leise, dass der Richter sie oft nicht versteht und nachfragen muss.

Richter: «Nun ist Ihre Berufsgeschichte nicht der Kern dieses Verfahrens, das ist klar. Es geht um den Vorwurf von Misshandlungen. Gegenstand der Anklage sind keine Misshandlungen von Ihnen, sondern von Ihren Brüdern. Sie sind selbst einmal vor dreieinhalb Jahren vernommen worden. Das war, meines Wissens, die einzige Vernehmung. Die war auch eher kurz.»

Tess: «Ja.»

Der Richter setzt an, als wolle er etwas fragen, zögert dann und mustert Tess.

Richter: «Ach, vielleicht doch noch eine Frage. Haben Sie Kontakt zu Ihren Geschwistern?»

Tess: «Ja.»

Richter: «Zu allen?»

Tess: «Nein, nicht zu allen.»

Richter: «Haben Sie zu den anwesenden Clemens und Vincens Kontakt?»

Tess: «Ja.»

Richter: «Nach Ihnen wird der Julian dran sein, der Älteste. Haben Sie zu ihm Kontakt?»

Tess: «Ja, auch.»

Richter: «Bleiben noch drei weitere. Haben Sie zu denen Kontakt?»

Er macht das noch ein paarmal, ansetzen, zögern, dann nach etwas Belanglosem fragen, wie nach der Grösse der Zimmer im Haus der Eltern oder der Anzahl der Gemeinden, denen sie mal angehört haben.

Schliesslich räuspert er sich.

Richter: «Ich habe hier ein Attest. Ich hangle mich so langsam dazu vor. Da hat Ihnen eine Ärztin eine posttraumatische Belastungsstörung, eine depressive Störung und auch eine dissoziative Identitätsstörung attestiert.»

Tess: «Hm.»

Richter: «Die Ärztin schrieb damals, man solle Sie doch besser nicht vernehmen. Ehm… Liest sich unangenehm.»

Tess: «Ist auch nicht angenehm.»

Richter: «Wie bekommt man so was?»

Tess: «Das bekommt man, wenn man sehr früh viel Gewalt erlebt. Wenn man Todesangst hat in den Situationen, und das gehäuft. Und wenn man keine Hilfe erfährt.»

Richter: «Heisst das, Sie erinnern sich daran, selbst starke Gewalt erlebt zu haben?»

Tess: «Zum Teil. Dadurch, dass es sehr aufgespalten ist bei uns, ist vieles noch unter Schutz. Aber durch die Therapie wird mehr erinnerbar.»

Eine Stunde beantwortet sie Fragen zu den Taten, die ihre Brüder betreffen.

*

Ein paar Monate nach ihrer Aussage besuche ich Tess in einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Niedersachsen.

Sie wartet an einem kleinen Holztor. Die Luft ist eisig. Ein dicker Schal umhüllt ihr Gesicht. Tess läuft über den Hof des gewaltigen Fachwerkgebäudes, trägt sich am Eingang in eine Liste ein und führt mich einen langen, schmalen Flur entlang. An einem Tisch empfängt ein Junge gerade seine Eltern.

Ihr Zimmer befindet sich im ersten Stock. Sie hat ein Einzelbett aus hellem Holz und ein Fenster. Auf dem Bett liegen eine Baby-born-Puppe und eine Handvoll Kuscheltiere. Vor dem Fenster steht ein Puppenbett.

Tess zeigt mir ihren Collegeblock. Sie hat in den letzten Wochen viel geschrieben, um ihre Gedanken zu sortieren. Sie sagt, ab und zu habe sie nun so Erinnerungsblitze.

«Da kommen, zackzackzackzackzackzack, lauter kurze Sequenzen. Die sind aber auch sofort wieder weg, bevor man sie richtig greifen kann.»

Sie sagt, sie sei sicher, dass sie irgendwann wissen werde, was damals alles passiert ist. Es sei irgendwo abgespeichert, es müsse sich nur noch klarer zeigen.

«Aber ich habe auch Angst vor diesem Moment. Davor, dass es mich völlig umhaut. Es wurde ja nicht umsonst verdrängt.»


Fünftes Kapitel: Renatus


Am Morgen des zweiten Prozesstages, zwei Stunden bevor Tess zu ihrer Aussage erscheint, stehen Vincens, Clemens und seine Freundin Natascha vor dem Gerichtssaal und warten auf den Beginn der Verhandlung.

Ein Mann um die siebzig, eleganter schwarzer Anzug, weisses Hemd, Lederaktentasche, schreitet auf sie zu.

«Guten Tag, mein Name ist Manfred Becker.»

Seine Augen wandern kritisch von einem zum anderen.

«Ich bin der gesetzliche Vertreter ihres Bruders Renatus. Ich habe erst am Montag von diesem Verfahren erfahren. Ich war noch am Samstag bei Ihren Eltern und Renatus. Ich will Ihnen nur sagen, es geht hier darum, was der Renatus will, nicht, was die Eltern wollen, nicht, was Sie wollen.»

Vorsichtig fragt Clemens:

«Ehm, ja, wir wollen da auch gar nichts.»

Ein paar Sekunden lang herrscht Schweigen. Dann zieht sich der Mann zurück, setzt sich auf einen Stuhl neben der Tür zum Gerichtssaal und starrt konzentriert in die Ferne.

Clemens, Vincens und Natascha tauschen verwirrte Blicke aus.

*

Renatus ist der Jüngste der sieben Geschwister. Er hat Trisomie 21 und lebt bis heute bei den Eltern.

Von den Geschwistern war Tess früher am engsten mit Renatus. Sie verbringt einen Grossteil ihrer Kindheit damit, sich um ihn zu kümmern, kocht für ihn, wenn die Mutter zu betrunken ist, spielt mit ihm, bringt ihn ins Bett. Er nennt sie Mama. Jedes Mal, wenn ich mit Tess rede, kommt sie früher oder später auf ihn zu sprechen, sagt, wie sehr sie ihn vermisse, schwärmt, wie liebevoll er eigentlich sei.

Die Geschwister sehen ihren jüngsten Bruder in den letzten Jahren kaum. Mit jedem Kontakt bekommen sie mehr und mehr den Eindruck, dass die Eltern ihn instrumentalisieren.

Clemens: «Als ich ihn auf Gregors Hochzeit gesehen habe, hat er die ganze Zeit gesagt: ‹Mein Bruder, du musst wieder zum Herrn finden und dich bei den Eltern entschuldigen.›»

Tess: «Ich hab vorletztes Jahr eine E-Mail von ihm bekommen, nachdem er nicht auf meine Anrufe reagiert hatte, in der stand, dass er sich keinen Kontakt zu mir wünscht und auch keine Geburtstagsgeschenke, solange das Verhältnis zu den Eltern nicht besser ist.»

*

Als der Richter an diesem zweiten Prozesstag mit Tess’ Befragung beginnt, setzt sich Manfred Becker unter die Zuschauer und zückt einen grünen Stift. Je länger Tess redet, desto akribischer macht er sich Notizen. Als der Richter bei Anklagepunkt zwei ankommt – Renatus, damals drei Jahre, wird von der Mutter auf dem Wickeltisch verprügelt –, schreibt Becker längst ununterbrochen.

Tess sagt, Renatus sei regelmässig geschlagen worden. Manchmal habe die Mutter ihn aus dem Hochstuhl genommen und dann mit Druck wieder hingesetzt. Manchmal habe sie ihn einfach geschmissen.

Tess: «Ich kann mich an eine Situation erinnern. Das war an einem Samstagmorgen. Wir sassen am Frühstückstisch, und da war die Windel voll, und die Mutter ist ausgerastet. Sie hat ihn mit hochgenommen und ihn dann oben geschlagen. Wir konnten ihn schreien hören, während der Vater seelenruhig weitergegessen hat. Ich bin dazwischen und hab versucht, sie wegzuziehen.»

Richter: «Wenn Sie dazwischengegangen sind, sind Sie dann bestraft worden?»

Tess: «Weiss ich nicht mehr genau. Es war auch nicht immer möglich dazwischenzugehen.»

Der Richter notiert gerade ihre Antwort, da ergreift Tess noch mal das Wort.

«Ich finde es schlimm, dass er immer noch da wohnt. Ich glaube nicht, dass die sich so verändert haben, dass er da in Sicherheit ist. Auch wenn sie jetzt durch die Anzeige vielleicht nicht mehr so viel Gewalt ausüben, ist er mit Sicherheit psychischer Gewalt ausgesetzt.»

Sie spricht laut und nachdrücklich.

«Ein behindertes Kind bei seinen Peinigern zu lassen, ist richtig schlimm. Er kann sich nicht wehren. Er kann nicht sagen: Ich will da nicht mehr sein.»

Ihr bricht die Stimme.

Die Anwältin flüstert etwas.

«Ich hab Sie nicht verstanden», herrscht der Richter sie an.

«Ich hab gesagt, wenn sie eine Pause braucht, dann soll sie es sagen.»

*

Während die beiden Anwälte und ihre Betreuerin die weinende Tess beruhigen, stellen sich Clemens, Vincens und Natascha zu Julian, der draussen auf seine Aussage wartet.

Auch Manfred Becker, der Mann im schwarzen Anzug, geht zu den Geschwistern. Er ist blass. Als hätte ihn jede Kraft verlassen, sackt er auf den Stuhl neben Julian. Geistesabwesend schüttelt er den Kopf.

«Dass ich das nicht gesehen habe. Dass ich das nicht im Entferntesten geahnt habe. Und wenn ich das so höre… Ich war doch noch am Samstag zum Frühstück eingeladen. Renatus hat aus der Bibel vorgelesen. Wir haben gebetet. Alle haben gelacht.»

Er schaut hoch in die Runde. Seine Augen sind weit aufgerissen.

«So eine erfüllte Familie hab ich noch nie erlebt.»

Seine Stimme klingt hilflos.

«Ich bin doch ausgebildet. Ich bin qualifiziert.»

Julian fängt irgendwann an, den Betreuer zu beruhigen: Ja, man sehe es ja auch nicht. Die Eltern könnten sehr gut täuschen. So sei es vielen gegangen.

Als die Verhandlung fortgesetzt wird, gehen alle wieder in den Saal, auch der Betreuer. Nur Julian bleibt vor dem Raum sitzen. Er hat Tränen in den Augen.

«So schlimm, oder?», sagt er zu mir.

*

Als der Richter Tess aus dem Zeugenstand entlässt, wird die Verhandlung erneut unterbrochen. Manfred Becker hat sich gesammelt. Er fängt Tess ab und sagt, er wolle jetzt einen Rechtsanwalt einschalten. Ob sie bereit wäre, nochmals auszusagen? Sie nickt. Dann stürmt er davon.

Geschwister und Anwälte schauen ihm hinterher.

Julian: «Der will aktiv werden. Selbst wenn das das Einzige ist, was es bringt, hat es sich schon gelohnt.»

Anwältin Maike Koch fragt, wie es sein kann, dass der Betreuer nichts von dem Verfahren wusste.

«Ganz am Anfang hab ich doch da angerufen.»

«Wen hast du angerufen?», fragt Kollege Thorsten Kahl.

Anwältin: «Den Betreuungsrichter. Es kann doch nicht sein, dass ein Betreuungsgericht davon Kenntnis hat und den Betreuer nicht informiert. Das kann ich echt nicht glauben.»

Julian: «Ist ja nicht das erste Mal, dass was vollkommen ins Leere läuft.»

*

Marion S. ist Kriminalbeamtin in Wetzlar und hat vier Jahre zuvor die Ermittlungen im Fall L. geleitet. Nachdem sie Geschwister und Eltern vernommen hatte, verfasste sie einen Bericht über den Fall, den sie ans Jugendamt in Wetzlar schickte, damit Renatus aus der Familie geholt würde. Vor Gericht sagt sie, sie habe nie erfahren, warum das nicht geschehen sei.

Als das Verfahren gegen die Eltern im Jahr 2015 langsam seinen Lauf nimmt, rufen Tess und Julian beim Jugendamt in Wetzlar an, um zu erfahren, was nun mit Renatus passiert.

Die Mitarbeiterin, mit der Tess spricht, sagt, sie dürfe keine Auskunft geben.

Die, mit der Julian spricht, sagt, nach den polizeilichen Aussagen sei davon auszugehen, dass Renatus binnen einer Woche von zu Hause entfernt werden würde.

Nach einer Woche ist Renatus aber immer noch bei den Eltern.

Irgendwann erhalten einige der Geschwister Vorladungen zu einer Anhörung am Familiengericht, bei der geprüft werden soll, ob Renatus aus der Obhut seiner Eltern entfernt wird. Als die Geschwister dem Gericht durch ihre Anwältin ausrichten lassen, dass sie gerne aussagen, jedoch nur in Abwesenheit der Eltern, werden sie wieder ausgeladen.

Julian bekommt nach der Anhörung einen Anruf von der Frau vom Jugendamt, erzählt er. Sie sagt, Renatus wolle zu Hause bleiben, und da er nicht mit blauen Flecken übersät gewesen sei, habe man sich entschlossen, seinem Wunsch zu entsprechen.

Die Geschwister bezweifeln, dass Renatus geistig in der Lage ist, selbst zu entscheiden, was für ihn am besten ist.

Julian: «Ich kann meinen Hund treten, und er wird mir trotzdem treu bleiben, weil ich sein Rudel bin. So verhält es sich, glaube ich, bei Renatus.»

Das Jugendamt Wetzlar reagiert nicht auf Fragen zu diesem Fall.

*

Gut anderthalb Monate nachdem Manfred Becker beim zweiten Prozesstag auftauchte, führt er mich in sein Büro im Wintergarten seines Hauses. Er zeigt, an welchem Tisch er und an welchem seine drei Mitarbeiterinnen sitzen. Becker sieht jünger aus als im Gericht. Er trägt Jeans und T-Shirt.

Ihm hätten alle abgeraten, mit der Presse zu reden, sagt er und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Aber er sei nicht der Typ, der sich so etwas sagen lasse.

«Ich bin ein harter Knochen, an mir prallt alles ab.»

Er grinst. Der Vorwurf, der im Raum stehe, sei doch folgender:

«Wieso merkt ein gesetzlicher Betreuer, der zudem auch noch Diplompsychologe ist, nicht, dass in dieser Familie Missbrauch passiert, sondern arrangiert sich glücklich mit den Eltern, lässt sich bewirten, ist zufrieden mit der Situation?»

Ja, wieso?

Becker ist seit Juni 2016 der Betreuer von Renatus. Er teilt sich die Betreuung mit den Eltern. Er sagt, Renatus habe sich immer vorbildlich verhalten, ruhig, ausgeglichen, freundlich. Er lächle nicht oft, aber die Leiterin der Behindertenwerkstatt, in der er eine Ausbildung mache, habe nur Positives über ihn gesagt. Als er zuletzt an einen anderen Standort wechselte, sei er dann auffälliger geworden, unruhig, unzufrieden, aggressiv.

Becker sagt, er sei im Nachhinein immer wieder das letzte Treffen durchgegangen, und er glaube, es sei so ein Gefühl von Geborgenheit, durch das er sich habe verführen lassen. Die Eltern seien charmant und aufgeräumt gewesen: Kommen Sie rein! Möchten Sie was zu essen? Wir haben Erdbeeren mit Schlagsahne vorbereitet. Sie hätten gestrahlt und erzählt, sagt er. Vater und Sohn würden so gern zusammen Fussball gucken. Sie müssten unbedingt mal zu einem Bayern-München-Spiel. Renatus habe aus der Bibel vorgelesen. Becker war entzückt.

Das Einzige, das ihm im Nachhinein aufstosse, sei ein Moment bei der Verabschiedung.

«Da war dieser Gesichtsausdruck von Renatus, dieser Blick am Ende, eine halbe Sekunde lang. Ein Blick, der gerade auf mich zugeht und gehalten wird. Das ist ganz ungewöhnlich für einen geistig Behinderten. Irgendwas ist da, und das wird er mir mal verraten, so ein Gefühl hatte ich da. Was das ist, konnte ich nicht sagen.»

Aber wie kann es sein, dass Sie vorher nichts über diesen Prozess wussten?, frage ich.

Weil die Betreuungsbehörde, von der er den Fall habe, nichts von dem Verfahren gewusst habe, deshalb, sagt Becker. In dem Gutachten über Renatus, das er am Anfang erhalten habe, habe gestanden, dass Renatus wegen Schulproblemen eine Betreuung brauche.

Die Mutter habe ihm erzählt, Renatus sei an der Förderschule für geistig Behinderte, die er damals besuchte, geschlagen und gemobbt worden. Sie habe daraufhin Strafanzeige gegen die Schule gestellt und auch mit der Polizei geredet.

«Jetzt hätte ich mich natürlich an die alte Schule wenden und das eruieren können», sagt Becker. «Aber will ich mich da reinhängen in den Konflikt der Mutter mit der Schule?»

Becker will nicht. Er bespricht mit der Mutter stattdessen den Schulwechsel und beobachtet, wie sie durchsetzt, dass Renatus’ Transport weiter durch öffentliche Gelder finanziert wird. Etwas, das eigentlich nicht möglich ist, wenn jemand wie Renatus auf eine Schule ausserhalb des eigenen Landkreises wechselt.

Das ist aber erfolgreich, ganz ungewöhnlich erfolgreich, habe er sich gedacht, erzählt Becker. Die schafft alles, super.

Als ich ihn frage, wie oft er Renatus danach noch gesehen habe, weicht er erst aus und erklärt mir das Finanzierungsmodell von Berufsberatern. Becker bekommt für jeden Klienten einen bestimmten Satz im Monat, unabhängig davon, wie viele Stunden er an dem Fall gearbeitet hat.

«Der Gesetzgeber sagt, es sei eine Mischkalkulation. Das heisst: Einige sehr aufwendige Fälle kriegen die meiste Zuwendung. Die Schreihälse und diejenigen, die sehr viel von mir fordern, die bekommen auch viel. Manche Angestellten arbeiten stundenlang für einen Klienten. Die anderen bekommen dann ganz wenig Zeit ab. Das ist das Finanzierungsmodell, und danach richte ich mich. Bei Renatus war immer alles klar. Ich habe am Anfang viel gemacht: Ich habe mit der Mutter eine Umschulung diskutiert, die Mutter war hier, ich habe die Eltern besucht, und, wie gesagt, kurz vor dem Prozess bin ich in der Familie gewesen. Angesichts der tüchtigen Mutter und des super Vaters gab es ja gar keine Handlungsgrundlage, bis ich diesen Brief hier bekam.»

Er zeigt auf einen Zeitungsausschnitt über den Prozess, den ihm die Leiterin der Lebenshilfe aus Wetzlar kommentarlos zugeschickt hat.

*

Anwältin Maike Koch guckt noch einmal in ihren Unterlagen nach. Sie findet eigene Gesprächsnotizen darüber, wie sie mit dem Betreuungsrichter telefonierte, ausserdem einen Brief an sie, aus dem hervorgeht, dass eine Zweitakte über das Strafverfahren an das Betreuungsgericht geschickt wurde.

Sie sagt: «Ich kann mir nicht erklären, wie er nicht davon gewusst haben kann, ausser er hat sich die Betreuungsakte nie angeguckt.»

Die Betreuungsbehörde des Lahn-Dill-Kreises reagiert nicht auf Fragen zu diesem Fall.

*

Es bleibt die Frage, wie es weitergeht mit Renatus.

Becker hat den Prozess nicht weiter besucht, er hatte bisher auch keinen Kontakt zu Renatus oder den Eltern. Die Betreuungsbehörde und die Lebenshilfe drängen ihn, endlich etwas zu unternehmen, sagt er. Die Lebenshilfe biete Renatus sogar einen Platz in einer Wohngruppe an.

Becker lässt das unbeeindruckt. Er will das Urteil abwarten, weil die Eltern im Falle einer Verurteilung als Betreuer entlassen würden und er sich dann nicht gegen sie stellen müsste. Da Renatus selbst nicht wegwolle, sei das wichtig, sagt er. Danach wolle er versuchen, Renatus in die Wohngruppe umzusiedeln, und auf Dauer Tess als Ersatzmutter etablieren.

Und wenn Renatus in der Zwischenzeit weiter misshandelt wird?

Becker: «Da passiert gar nichts. Wenn ich so auftrete, dann ist Renatus in Sicherheit.»

Aber Sie sind in den letzten Wochen doch bisher nicht aufgetreten, sage ich. Woher wollen Sie wissen, dass Renatus nicht den Stress des Verfahrens abbekommt? Sie sagen, er sei zuletzt aggressiv aufgefallen.

«Die Eltern sind stark eingeschüchtert und verunsichert. Deshalb ist er verunsichert. Ich mache mir um Renatus jetzt keine Sorgen. Wenn die Eltern eine Inhaftierung näher kommen sehen und ihr Leben zerbricht, dann mache ich mir Sorgen um Renatus.»


Sechstes Kapitel: Darius


Darius wird ein Schatten im Prozess bleiben.

Nach seinem Auszug ist er obdachlos, lebt zehn Jahre auf der Strasse, kämpft mit Alkohol- und Drogensüchten, wird Vater. Als ich die Geschwister kennen lerne, ist er gerade abgetaucht, und niemand hat Kontakt zu ihm. Zu seinen Vernehmungen ist er nicht erschienen.

Ich habe versucht, auf unterschiedlichsten Wegen mit Darius in Kontakt zu kommen. Die meisten Mailadressen und Telefonnummern, die ich von seinen Geschwistern bekam, waren nicht mehr aktiv. Bei denen, die aktiv waren, folgte keine Reaktion.

Tess ist die Einzige, die noch hin und wieder etwas über ihn erfährt. Sie ist mit der Mutter seines Kindes befreundet, Saskia [Name geändert] , mit der Darius mal zusammen ist, mal nicht. Ein paarmal sieht Tess Darius bei ihr, fragt ihn, ob er mit mir sprechen würde. Er lehnt ab. Sonst redet Tess nicht viel mit ihm. Sie erträgt es nicht, seine Fahne zu riechen und zu wissen, was sein Kind und die beiden Kinder Saskias alles durch ihn erleben.

Ihren Brüdern gibt sie die neuesten Bruchstücke über sein Leben weiter: Darius macht einen Entzug. Darius schlägt Saskia. Darius nimmt wieder Drogen. Darius ist abgehauen. Darius hat eine eigene Wohnung. Darius will eine Umschulung machen. Darius und Saskia haben sich getrennt. Darius trinkt. Niemand weiss, wo Darius ist.

*

Clemens erzählt, dass er mal ein Jahr sehr intensiven Kontakt mit Darius hatte.

«Das kam mit der Geburt seines Kindes. Da hatte Darius zum ersten Mal wieder einen festen Wohnsitz. Ich hatte schon vorher oft versucht, mit ihm Kontakt zu haben. Ich hab immer alle Penner gefragt, ob die ihn kennen. Ich weiss nicht, warum ich das gemacht habe. Ich fand den irgendwie unglaublich cool, weil er der Intellektuellste von uns ist. Darius ist dermassen intelligent, das ist einfach krass. Der ist so viel schlauer als ich. Wenn man mit dem redet, der hat immer schon alle Erkenntnisse. Nur nicht über sich.»

Clemens sagt, jenes Jahr habe toll begonnen. Sie verstehen sich super, reden viel, philosophieren gemeinsam. Darius lebt mit seiner Freundin, dem Baby und Saskias zwei anderen Kindern in einer Wohnung. Er ist voller Pläne, sprudelt vor Ideen, wie das Leben nun endlich richtig gut werden kann. Clemens zeigt mir Mails aus der Zeit, in denen Darius ihm Bücher über die Evolutionstheorie und Vorlesungen über Atheismus empfiehlt. Clemens freut sich, dass Darius endlich nüchtern ist und versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen.

Nur ist Darius nicht nüchtern. Er zieht jeden Morgen heimlich Speed, um seinen Alltag zu bewältigen. Jeden Abend kifft er oder trinkt, um runterzukommen. Irgendwann erwischen sie ihn.

Clemens versucht zu helfen, verbringt viel Zeit mit den Kindern, wird zu Saskias Vertrautem. Manchmal ruft sie ihn jeden Tag an, will stundenlang reden. Als Darius und Saskia ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können, überweist Clemens ihnen eine Miete. Irgendwann ist es zu viel. Clemens hört auf sich zu melden.

«Ich fühle mich schuldig, dass ich Darius nicht helfen konnte. Aber es macht mich einfach noch fertiger, wenn ich wirklich davon weiss. Wenn ich da drinstecke und den Kindern helfe und dann merke, wie er sein Leben verkackt. Das kostet Energie, weil ich immer denke: Wie kann ich das ändern? Kann ich aber nicht. Und ist auch nicht meine Aufgabe.»

Ich frage Clemens, ob Darius wohl von dem Prozess weiss. Clemens sagt, als es losging, habe er ihm davon erzählt. Kurz darauf sei Darius einfach verschwunden und habe Saskia und die Kinder alleine gelassen, ein Drogenrückfall. Saskia habe nichts über seine Kindheit gewusst. Sie habe gedacht, das Problem sei, dass die Eltern spiessig sind und Darius ein Kommunist. Sie und Darius hatten sich mehrmals mit den Eltern auf dem Spielplatz getroffen.

*

Wenn die Geschwister über Darius reden, herrscht eine eigene Stimmung. Es schwingt viel Traurigkeit mit, viel Enttäuschung.

Sie betonen immer gleich, wie klug Darius doch sei, so begabt in vielen Dingen.

Tess: «Er kann so gut malen.»

Clemens: «Er lernt so schnell dazu.»

Julian: «Darius kann richtig viel. Der braucht gar keine Ausbildung. Der muss nur eine Möglichkeit finden, die PS auf die Strasse zu kriegen.»

Es ist, als könnten sie nicht glauben, dass es von ihnen gerade Darius ist, der die Gewalt fortführt.

Es schwingt aber auch immer ein Gefühl der Nähe mit. Eine Verbundenheit trotz all der Enttäuschung.

Clemens: «Ich weiss nicht, warum ich nicht so geworden bin wie der Darius. Ich halte es für eine gewisse Art von Zufall. Ich kann es mir nicht erklären. Aber ich weiss, dass ich jederzeit… dass es immer noch passieren könnte, dass ich so ende.»

Tess: «Eigentlich ist Darius total der liebe Mensch. Er hat ein sehr grosses Herz. Es passt nicht zu ihm, dass er so aggressiv ist. Aber es wundert mich auch nicht, weil ich glaube, dass es in uns allen steckt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es in uns allen steckt.»

*

In der Entwicklungspsychologie gibt es zurzeit drei zentrale Hypothesen dazu, wie sich im Kindesalter erlebte Stresserfahrungen auf die Entwicklung auswirken und wann eine Person infolgedessen an psychischen Störungen erkrankt.

Die grösste Evidenz herrscht für Hypothese Nr. 1, die kumulative Stresshypothese.

Sie geht davon aus, dass das Risiko, an einer psychischen Störung zu erkranken, additiv und unspezifisch ist.

Das bedeutet einerseits, dass das Störungsrisiko mit der Anzahl der unterschiedlichen belastenden Kindheitserfahrungen steigt. Es ist also weniger entscheidend, welche Art von Erfahrungen ein Kind erlebt hat, ob sexueller Missbrauch, Verlust, Sucht der Eltern, körperliche Misshandlung, Vernachlässigung etc. Entscheidend ist vielmehr die Summe dieser unterschiedlichen Risikofaktoren.

Andererseits scheint es nicht die eine spezifische Folge auf ein bestimmtes Ereignis zu geben. Eine belastende Erfahrung kann immer zu verschiedensten Folgen führen. Das können internalisierende Symptome wie Depression und Angst sein. Oder externalisierende Symptome wie Verhaltensauffälligkeiten, Aggressivität und Peerprobleme. Oder Verhaltensweisen, die weder rein internalisierend noch externalisierend sind, etwa Sucht oder Kriminalität.

Nr. 2 ist die interaktive Stresshypothese.

Sie nimmt an, dass bis zu einer bestimmten Qualität des Stresses Resilienzfaktoren – die Umwelt oder der Charakter eines Kindes – das Risiko für psychische Störungen abschwächen können. Leichte Stresserfahrungen können dann sogar entwicklungsförderlich sein, weil die Möglichkeit besteht, dass Kinder dadurch Fähigkeiten entwickeln, die sich positiv auf ihr weiteres Leben auswirken. In der Psychologie spricht man von einem Steeling-Effekt. Erreicht Stress jedoch ein chronisches, schwerwiegendes Niveau, helfen auch Resilienzfaktoren nicht mehr, fast alle Kinder sind nun von Folgen betroffen.

Hypothese Nr. 3 ist die der Entwicklungsprogrammierung. In letzter Zeit finden sich immer mehr Belege für sie.

Sie geht davon aus, dass es in der Entwicklung eines Kindes bestimmte Zeitfenster gibt, die die Vulnerabilität für späte Störungen erhöhen, weil in diesen Zeitfenstern Entwicklungen und Hirnreifungsprozesse stattfinden, die später schwer nachzuholen sind. Oft steht dabei sehr früher Stress im Fokus. Bisher ist jedoch ungeklärt, wann genau und wie lang die sensiblen Zeitfenster offen sind.

*

Am Universitätsklinikum Leipzig findet seit Jahren eines der weltweit grössten Forschungsprojekte zu den entwicklungspsychologischen Folgen von Kindesmisshandlungen statt. Die Forschenden untersuchen anhand von neunhundert Kindern und deren Entwicklungspfaden, wie sich Misshandlungen auswirken. Alle zwei bis drei Jahre laden sie die Kinder ein, machen Tests mit ihnen, befragen sie – manche mittlerweile schon zum achten Mal.

Leiter der Forschungsgruppe ist der Psychologe Lars White. Ich treffe ihn im Oktober 2020 in seinem Büro. White, blonde Haare, Brille, freundliches Lächeln, sitzt Corona-bedingt hinter einer Plexiglasscheibe. Er spricht mit ruhiger, warmer Stimme. Hin und wieder schaut er auf sein Handy, weil seine Frau hochschwanger ist.

White: «Der ehemalige Präsident der American Psychiatric Association hat mal gesagt: ‹What cigarette smoking is to the rest of medicine, childhood violence is to psychiatry.› Ich finde, das trifft es ganz gut.»

Er erklärt, dass man nicht unbedingt wisse, welche Störung nach welcher Misshandlung auftreten wird, dass Misshandlungen aber mit Kriminalität und psychischen Erkrankungen der Eltern zu einer Gruppe von Risikofaktoren gehören, die einen besonders starken, chronischen Effekt auf spätere Störungen haben, stärker auch als andere Risikofaktoren.

White: «Ich glaube, dass diese Ereignisse hoch prognostisch sind, weil auch die Möglichkeiten der Verarbeitung beim Kind immer geringer werden, wenn sie in einer gewissen Chronizität auftreten. Die Quelle der Angst, also in der Regel ein Elternteil, ist für ein Kind auch die Quelle der Verarbeitung. Wenn die Bezugsperson die Quelle der Angst ist, sind ganz banale Dinge wie Trost nicht mehr verfügbar. Das heisst, wenn Misshandlungen in der Familie kontinuierlich auftreten, dann ist auch keine Verarbeitung mehr innerhalb der Kindheit möglich. Es kann natürlich immer noch nachträglich eine Art Verarbeitung stattfinden. Das will ich nicht ausschliessen. Es wird aber zunehmend schwer.»

Studien zeigen, dass Personen, die als Kinder misshandelt wurden, therapieresistenter sind und dass sie, selbst wenn ihnen geholfen werden kann, eine hohe Rückfallquote haben. Oft bleiben ihre Störungen bis ins hohe Alter bestehen.

White: «Wir müssen uns fragen: Wie behandeln wir diese Kinder? Was sollten wir machen, damit es ihnen langfristig besser geht? Das ist bisher eine riesige Lücke in der Forschung.»

White und sein Team wollen neue Therapiemöglichkeiten finden, mit denen man bei misshandelten Kindern früh ansetzen kann. Deshalb versuchen sie, zunächst die genauen psychosozialen und biologischen Mechanismen zu verstehen, die durch Misshandlungen in Gang gesetzt werden. Was genau verändert sich im Denken eines Kindes, das misshandelt wird? Was in seinem Körper? Wo kann eine Behandlung ansetzen?

Ein Kind, das nicht mehr weiss, an wen es sich wenden soll, weil seine Eltern die Quelle seiner Angst sind, bleibt in einem Zustand gefangen, den die Psychologie «Angst ohne Lösung» nennt. Was folgt, ist ein Zusammenbrechen seiner Bindungsstrategien, auch «desorganisierte Bindung» genannt. Diese Kinder sind auf sich zurückgeworfen, um ihre Affekte und Gefühle selbst zu regulieren.

«Ein zentraler Mechanismus, von dem wir ausgehen, ist, dass sich ein ungewolltes Kind nicht nur von seinen Eltern ungewollt fühlt, sondern glaubt, essenziell ungewollt zu sein, also ungewollt von jedem. Es entwickelt Strategien, um anderen zu gefallen oder nicht negativ aufzufallen, Strategien, um zu verhindern, dass es wieder in eine pathologische oder dysfunktionale Beziehung kommt.»

Diese Strategien und ihre Auswirkungen hat White in einer Reihe von Studien untersucht. In einer lassen er und seine Kollegen Kinder Geschichten über ihr Leben erzählen. Nach einer Weile bitten sie die Eltern in den Raum und vergleichen, wie sich die Erzählungen der Kinder dadurch verändern.

«Im Grossen und Ganzen kann man sagen, dass ein Kind – egal ob misshandelt oder nicht – die Eltern in den Geschichten positiver darstellt, wenn diese mit im Raum sind. Das ergibt auch Sinn, weil es sein Elternteil ja nicht verärgern will. Dieser Effekt war aber bei den misshandelten Kindern noch deutlich stärker.»

White erklärt, dass jeder Mensch, der sich in einem sozialen Kontext bewegt, darauf bedacht ist, sich auf eine gewisse Weise darzustellen. Grundsätzlich ist diese Fähigkeit erst mal eine Ressource. Ist die Fähigkeit aber sehr ausgeprägt und ein Kind aus Angst oder anderen Gründen nur noch mit dem Verhalten der anderen beschäftigt, dann entwickelt es ein falsches Selbst. Es verhält sich anders, als es sich fühlt, und verliert manchmal sogar ganz die Fähigkeit, überhaupt eigene Gefühle wahrzunehmen. Es entsteht ein Nährboden für spätere Depressionen, Angst oder reaktive Aggression.

Für eine andere Studie hat White mit seinem Kollegen Jan Keil eine Art Computerspiel entwickelt. Die Spieler bekommen beim Start jeweils gleich viele Pizzastücke, von denen sie beliebig viele an die Gemeinschaft spenden können. Die Zahl der gespendeten Pizzastücke wird multipliziert, und am Ende werden die Stücke gleichmässig unter den Teilnehmern aufgeteilt.

In der Studie spielt jeweils ein Kind gegen zwei fiktive Mitspieler. In einer ersten Runde kooperieren diese und geben der Gemeinschaft alle ihre Pizzastücke, in einer zweiten Runde geben sie nicht so viel ab, und in der letzten Runde nutzt ein Mitspieler die anderen aus und spendet nichts, während der andere kooperiert und viele Pizzastücke gibt.

«Was wir beobachtet haben, ist, dass die Gruppe der misshandelten Kinder interessanterweise über alle Bedingungen hinweg kooperiert hat, also ein hyperkooperatives Verhalten gezeigt hat. Wir haben das so interpretiert, dass auch das eine Art Beschwichtigungsverhalten ist, um das Risiko für feindliches Verhalten zu minimieren. Wie man in dem Pizzaspiel auch sah, hat dieses hyperkooperative Verhalten allerdings zur Folge, dass die Kinder in neuen Situationen schneller ausgenutzt werden. Misshandelte Kinder zeigen keine gesunde Skepsis zu Beginn einer Beziehung, die aber dazugehört, wenn man sich gerade erst kennen lernt.»

Die Kinder machen sich dadurch zur Zielscheibe für weitere Risikofaktoren.

Neben diesen psychosozialen Mechanismen, denen in Therapien entgegengewirkt werden könnte, finden White und seine Kollegen aber auch biologische Folgen, die im Nachhinein schwer aufzulösen sind. Denn die Misshandlungen führen auch dazu, dass der Körper in Zukunft nicht mehr kohärent funktioniert.

Ein Beispiel dafür ist das Stresshormon Cortisol.

Über Jahre vergleichen White und sein Team den Cortisolgehalt in den Haaren misshandelter und nicht misshandelter Kinder. Das Ergebnis: Mit zunehmendem Alter steigt bei nicht misshandelten Kindern die Cortisolausschüttung. Bei misshandelten Kindern bleibt dieser Anstieg aus. Bei Kindern im Alter von neun Jahren findet sich zwischen beiden Gruppen bereits ein Unterschied von circa 25 Prozent. Ein auf den ersten Blick überraschender Befund, da der Körper auf ein traumatisches Ereignis mit Stress und somit einem erhöhten Cortisolspiegel reagiert. Weil aber die anhaltende Stresshormonausschüttung für den Körper toxisch ist, seine Immunreaktionen hemmt und zu Zelltod führt, reduziert der Körper seine Fähigkeit, Cortisol auszuschütten, wenn der Stress, etwa bei Misshandlungen, anhält. Der Unterschied im Cortisolspiegel misshandelter und nicht misshandelter Kinder ist Ausdruck dieser permanenten Herunterregulierung.

Aber warum ist das ein Problem?

«Weil wir Cortisol brauchen», sagt White. «Cortisol verschafft uns die Energie, um stressige Herausforderungen zu meistern und uns an unsere Umwelt anzupassen.»


Siebtes Kapitel: Julian


Es ist schon spät, da schickt Julian ein Familienfoto. Es war nicht leicht, eins aufzutreiben.

Das Foto wurde 1997 oder 1998 aufgenommen. Ganz klar kann er das nicht rekonstruieren. Die Thujahecke im Hintergrund lässt auf Allendorf schliessen, wo sie im Haus der Brüdergemeinde lebten.

Für einen unwissenden Betrachter zeigt das Foto eine glückliche Familie. Für Julian aber zeichnet sich hier in jedem Kind schon dessen zukünftige Rolle ab.

Ganz vorne stehen Mutter und Vater. Beide lächeln in die Kamera, er mit offenem Blick, sie, durch ihre Zahnlücke, eher verschmitzt. Stolz präsentieren sie Baby Renatus.

Julian sitzt in der Mitte des Bildes auf einer Mauer. Links und rechts von ihm Vincens und Clemens, beide lehnen sich zu ihrem grossen Bruder.

Links, etwas abseits, thront Gregor auf einem Pfosten. Er steht über den anderen, hat die Augen geschlossen und lacht unbekümmert.

Auf der anderen Seite, auch etwas abseits vom Rest, sitzt Darius. Er hat wie Gregor die Augen geschlossen, strahlt aber das Gegenteil von dessen Leichtigkeit aus. Die Schultern hängen, die Hände wissen nicht, wohin, das Lächeln gequält.

Tess steht in der ersten Reihe. Heute ist an ihr nichts mehr, wie es auf diesem Foto war, nicht die roten Haare, nicht die weibliche, fromme Kleidung, nicht das Selbstbewusstsein im frechen Blick.

*

Gekürzte Auszüge aus dem Protokoll von Julians erster Vernehmung am 9. Mai 2017:

«Ich bin der Älteste und damit vermutlich am ehesten in der Lage zu reflektieren, was da mit uns geschieht. Ich habe mich für meine Geschwister verantwortlich gefühlt. Ich habe versucht, die Geschwister zu schützen.

Wenn meine Mutter die Kleineren geschlagen hat, bin ich sofort eingeschritten. Meine Mutter konnte ich ja wegzerren. Bei meinem Vater war es anders. Da bin ich nicht sofort eingeschritten, weil Einschreiten mit einem hohen Opfer verbunden war. Ich hatte Angst. Wenn ich aber das Gefühl hatte, dass der Vater zu weit geht, habe ich ihn so lange beleidigt, bis er sich mir zugewandt hat.

Ich kann mich erinnern, dass ich zu meiner Beruhigung ein grosses Messer unter mein Kopfkissen gelegt habe. Ich kann heute gar nicht so genau sagen, was ich damit eigentlich wollte. Es hat sich wie eine Option angefühlt. Ich meine, ich hätte es auch einmal in die Hand genommen, als mein Vater in das Zimmer gekommen ist, da ist aber weiter nichts passiert.

Im Alter von vierzehn bis achtzehn Jahren bin ich immer häufiger eingeschritten. Mein Vater hat dann auch nicht mehr verlangt, dass ich mich auf den Boden lege, um geschlagen zu werden. Er wusste, dass ich das nicht mehr tun würde. Ich war immer etwas fassungslos, dass meine Geschwister das noch gemacht haben, obwohl sie sich auch hätten wehren können.»

*

Als Clemens am Abend des ersten Prozesstages nach Hause kommt, geht er direkt in Julians Büro und berichtet.

Es sei gut gelaufen, sagt er, die Eltern hätten die Taten eingeräumt, und die Anwälte würden damit rechnen, dass zumindest die Mutter eine Haftstrafe bekomme. Der Richter habe sich auch zurückgehalten. Nur Vincens musste sich von einem Verteidiger fragen lassen, ob er, als er die Treppe runtergezogen wurde, vielleicht nur das Gleichgewicht verloren habe.

Julian war nie von der Prozessidee begeistert. Er sagt, er habe vor langer Zeit verstanden, dass er den Kampf gegen seine Eltern nicht gewinnen kann, solange er ihn face-to-face führt. Gewinnen kann er nur durch Distanz, indem er sich von ihnen frei macht und einen eigenen Lebensentwurf findet, der besser ist. Ein Gegenentwurf zu ihrem. Er erklärt sich nur wegen Clemens und Vincens bereit, im Prozess auszusagen. Es wird das erste Mal seit Jahren sein, dass er auf seine Eltern trifft.

Als Clemens mit seinem Bericht fertig ist, sieht Julian nachdenklich aus.

«Ich habe erwartet, dass die Eltern sich mehr wehren», sagt er. «Unser Vater gibt nie irgendwas kampflos her. Das hat er noch nie gemacht. Er ist der Meister darin, Machtspiele zu spielen und von sich selbst abzulenken. Ich bin oft zu Ältesten in der Gemeinde gelaufen und hab gesagt: Das und das passiert bei mir zu Hause – was soll ich machen? Dann wurde das angesprochen, und er hat es abgebügelt.»

Julian zögert.

«Ein bisschen Angst hab ich schon. Weil ich immer wieder festgestellt hab, dass man die in ihrer Welt auch mit Intelligenz und den besseren Argumenten nicht schlagen kann.»

«Da wurde die Welt halt ein bisschen weiter umgebogen», sagt Clemens augenzwinkernd.

«Genau», sagt Julian. «Die Realität, die wird immer so weit gebogen, bis du wieder Opfer bist.»

Mehr zu sich als zu Clemens fügt er hinzu:

«Aber das kann mir jetzt nicht passieren. Ich bin jetzt in meiner eigenen Realität. Ich kann nicht mundtot gemacht werden.»

*

Mit achtzehn weiss Julian, dass er zu Hause ausziehen könnte, ist aber gehemmt, weil seine Geschwister ihm sagen, dass sie ihn brauchen. Julian geht zu einem Therapeuten und fragt ihn, was er tun solle.

Zu Hause kannst du deinen Geschwistern überhaupt nicht helfen, sagt der Therapeut. Du kannst immer mal Händchen halten, aber das bringt nichts. Du musst da raus. Du hilfst deinen Geschwistern nur, indem du ihnen zeigst, dass das geht. Und vielleicht kannst du ihnen sogar von aussen die Hand reichen.

Jahre später nimmt Julian erst Clemens, dann Gregor und zuletzt Vincens bei sich auf. Darius zieht nicht zu ihm. Tess nur für einen sehr kurzen Moment. Sie ist sechzehn und hält es zu Hause nicht mehr aus. Julian holt sie ab und bringt sie zu sich. Seine Frau Joana geht mit ihr zum Jugendamt. Als die Eltern Julian dann wegen Entziehung Minderjähriger anzeigen, muss Tess zur Oma. Es dauert nicht lange, bis sie von dort ins Haus der Eltern zurückkehrt und das Jugendamt den Fall ruhen lässt.

Vincens sagt, es sei ein bisschen wie betreutes Wohnen bei Julian. Julian ist immer ein Ansprechpartner, motiviert ihn, selbstständiger zu werden und zur Therapie zu gehen. Als Julian Clemens den Job in der Schreinerei gibt, weckt er ihn jeden Morgen.

Clemens sagt über Julian: «Eigentlich hat er uns alle gerettet.»

*

Richter: «Herr L., schön, dass Sie da sind. Nehmen Sie Platz!»

Julian setzt sich an den Zeugentisch. Er trägt ein grünes T-Shirt und Jeans.

Richter: «Ihr voller Name ist Julian L.?»

Julian: «Ja.»

Richter: «Sie sind heute wie viele Jahre alt?»

Julian: «Vierunddreissig.»

Richter: «Von Beruf, bitte?»

Julian: «Ich bin Tischlermeister.»

Richter: «Und die Angeklagten sind Ihre Eltern?»

Julian: «Jawohl.»

Der Richter beginnt, in seinen Unterlagen zu kramen.

Richter: «Bei der Vernehmung haben Sie so angefangen: Ich erinnere mich an einzelne Episoden in der Kindheit, aber eigentlich war es ein System.»

Julian nickt: «Es hat sich nicht so angefühlt, als könnte eine Reduzierung auf einzelne Erlebnisse repräsentieren, was ich erlebt habe. Vielleicht auch, weil bei einem bestimmtes Mass an körperlicher Bestrafung eine Gewöhnung einsetzt. Der Schmerz lässt schneller nach. Es ist die Einbettung der Gewalt in ein System aus Macht und Kontrolle, womit ich mehr zu kämpfen hatte.»

Richter: «Sie haben auch gesagt: Ich hab meine gesamte Kindheit in Angst gelebt. Das war ein Dauerzustand.»

Julian: «Es gab sicherlich auch kurze Momente, wo das in den Hintergrund gerückt ist. Aber ja, weil es immer ein System war, in dem man sich bewegt hat. Vielleicht kann man es vergleichen mit einem Überwachungsstaat. Nordkorea als Familie. Da kann ich auch im Keller irgendwelche Freiheiten leben, aber man bleibt immer in einem Zustand der negativen Achtsamkeit, in dem man versucht, etwas zu vermeiden.»

Richter: «Während der gesamten Zeit, als Sie noch zu Hause wohnten, ging der Vater arbeiten.»

Julian: «Ja.»

Richter: «Und die Mutter blieb zu Hause?»

Julian: «Ja.»

Richter: «Okay, dann ist klar, sie kriegt schon mal mehr mit als der Vater.»

Julian: «Ja.»

Richter: «Gab es denn eine Art Rollenverteilung? Wer wofür zuständig war?»

Julian erzählt, als er klein war, sei die Gewalt vor allem vom Vater ausgegangen. Die Mutter habe ihm berichtet, der Vater dann geurteilt und vollstreckt. Er selbst habe sich damals noch anhand eines groben Bussgeldkatalogs ausrechnen können, was ihn ungefähr an Schlägen erwarte. Später sei das nicht mehr möglich gewesen.

Irgendwann beginnt auch die Mutter Gewalt auszuüben. Mit zunehmender Anzahl der Kinder wird die Gewalt dann immer extremer. Und auch noch willkürlicher, als die Mutter zu trinken anfängt.

Für ihn jedoch sei auch später immer der Vater zuständig gewesen. In der Grundschule habe er seine Mutter einmal harsch weggeschubst, als sie ihn schlagen wollte, und danach habe sie es nie wieder bei ihm versucht.

Einer der Anwälte fragt ihn, ob er seine Eltern für Sadisten halte.

Julian überlegt.

«Ich glaube nicht, dass sie morgens mit der Lust zu quälen aufstehen, sondern eher mit dem ganz grossen Bedürfnis, eine Scheinwelt aufrechtzuerhalten, die eigentlich schon komplett niederliegt. Wir sollten wie eine glückliche, heile, grosse, christliche Familie wirken. Es ist ihnen ja auch immer wieder gelungen, dass andere diesen Eindruck gewinnen. Je kaputter es im Inneren wurde, desto mehr Energie mussten sie reinstecken.»

Der Richter beginnt Punkt für Punkt die Anklage durchzugehen. Mehr als Anekdote erwähnt Julian, dass der Vater mal in die Notaufnahme musste, weil er sich einen Finger brach, als er eines Nachts Darius aus dem Bett zog und auf ihn einschlug. Der Richter horcht auf.

Richter: «Sie haben gesagt, am Anfang konnten Sie sich bei Ihrem Vater ungefähr ausrechnen, welche Strafe Sie für Vergehen bekommen werden. Das, was Sie gerade geschildert haben, klingt nicht nach irgendeiner vorher überlegten Strafe.»

Julian: «Ja. Das war schon in der Zeit der willkürlicheren Gewalt.»

Der Richter schaut irritiert: «Auch vom Vater?!»

Julian: «Ja. Natürlich war er weniger anwesend. Aber er hat sich genauso entwickelt. Ich weiss noch die letzte Gewalt, die ich erlebt habe, bevor ich ausgezogen bin: Da hat mir mein Vater mit der Faust ein blaues Auge geschlagen. Das war auch keine geplante Bestrafung, sondern eine spontane Reaktion auf eine Situation, wo er seine Macht mir gegenüber nicht aufrechterhalten konnte.»

Julian hatte vorher einmal von diesem Moment erzählt. Das Haustelefon funktionierte nicht, und als er zu seinem Vater sagte: Das Telefon ist leer, ich brauche neue Akkus, antwortete sein Vater: Kann nicht sein. Doch, sagte Julian. Ein Telefon kann nicht leer sein, Julian, ermahnte ihn der Vater. Die Akkus des Telefons sind leer.

Anstatt sich wie sonst sofort zu korrigieren, hielt Julian inne. Pass mal auf, Papa – erinnert er sich, gesagt zu haben –, wir kommunizieren hier. Sinn von Kommunikation ist, dass die Botschaft ankommt. Wenn ich dir sage, das Telefon ist leer, weisst du genau, was ich meine. Damit ist der Sinn von Kommunikation erfüllt. Es mag ja sein, dass es sprachlich korrekter ist, wenn ich dir sage, die Akkus sind leer. Aber wir sind hier in einer Familie, da muss es möglich sein, dass irgendwann mal was auf entspannte Art stattfindet.

Es ist das erste Mal, dass er seinen Vater so belehrt. Sekunden später spürt Julian die Faust im Gesicht.

Julian erklärt dem Richter: «Wenn jemand seine Macht nicht anerkannt hat, ist er eskaliert. Dann hat er seine Stellung als Patriarch mit allen Mitteln verteidigt.»

Richter: «Wie haben Sie reagiert?»

Julian: «Ich hab sofort zurückgeschlagen.»

*

Es ist schwer, Julians Erinnerungen an das einnehmende, beängstigende Charisma seines Vaters mit dem Mann auf der Anklagebank zusammenzubringen.

Während die Mutter neben ihm weint und schluchzt, wirkt der Vater die meiste Zeit wie auf Valium. Sein Gesichtsausdruck ist gleichgültig, die Schultern hängen, der Kopf ist leicht zur Seite geneigt. Während der Aussagen seiner Kinder starrt er oft unbeteiligt aus dem Fenster. Die wenigen Male, die ihm der Richter eine Frage stellt, spricht er so langsam, als koste ihn jedes Wort Kraft.

Nachdem Julian seinen Vater das erste Mal vor Gericht sieht, sagt er zu mir: «Den Ausdruck, den der Vater da im Gesicht hat, den habe ich so noch nie an ihm gesehen.»

*

Julian: «Als ich siebzehn war, hatte ich meine erste Freundin. Das war eine richtig gute Beziehung. Sehr ernst. Ein Jahr waren wir zusammen, und dann hat sie mit folgender Begründung mit mir Schluss gemacht: Sie liebe mich zwar, habe aber Angst und sehe Anzeichen dafür, dass ich so werde wie mein Vater.

Das war ein richtiger Schlag ins Gesicht. Du spinnst, hab ich gesagt. Das Allerletzte, was ich will, ist, so zu werden. Alles in mir verurteilt dieses Verhalten. Das ist, was ich am meisten hasse.

Ich bin dann in ein Loch gestürzt, und am Boden von diesem Loch, nachdem ich mich im Elend gesuhlt und jedem die Schuld gegeben hatte, auch ihr, habe ich gemerkt: Alter, die hat recht.

Ich bin heute ein selbstbewusster Typ. Aber damals war ich ganz klein. Ich habe wirklich überhaupt nichts von mir gehalten. Ich habe gedacht, ich bin der grösste Trottel, war unsicher, leicht depressiv, ganz schwaches Selbstbewusstsein. Und dann diese grosse Verzweiflung der Situation zu Hause gegenüber.

Und wenn du, wie ich, eigentlich eine dominante Persönlichkeit hast, so ein starker Typ bist, du dann aber unsicher wirst, dann bist du extrem gefährlich. Das ist dann dieser krankhafte Narzissmus. Du bist ständig um dein eigenes Ego besorgt, und wenn du kritisiert wirst, schiesst du gleich. Absolut konfliktunfähig. Ich hab nicht sie geschlagen, aber ich hab mich viel geschlagen. Weil Gewalt für mich ein normaler Teil der Lösung war. Das hat sie gespürt.

Mein Vater hatte auch eine beschissene Kindheit. Der ist ja auch nicht aus Spass so geworden. Und ich gehöre schon zu den Kindern, die unserem Vater sehr ähnlich sind. Einfach wie ich bin, was für Skills ich habe, das ist relativ vergleichbar. Das Natürlichste, was mir passieren kann, ist, die ganze Geschichte zu wiederholen. Wenn ich nicht eine richtig grosse Anstrengung unternehme, dann komme ich genau da hin.»

*

An einem sonnigen Tag führt mich Julian durch die Werkstatt seiner Schreinerei. Er zeigt mir die Projekte, die gerade anstehen, erklärt, wer welcher Mitarbeiter ist, macht mit jedem Scherze und achtet darauf, ob sich alle um ihn herum wohlfühlen. Julian hat diese angenehme Art eines Menschen, der zwar sehr selbstbewusst ist, sich aber nie zu ernst nimmt. Er lacht viel über sich und seine Eigenarten, zum Beispiel dass in ihm ein Materialist steckt, der gern zehn alte Mercedes besitzen würde, oder dass sein Erziehungsstil auf der Maxime beruht, lieber immer ein bisschen zu viel als zu wenig zu verwöhnen.

Julian gründet die Schreinerei 2010, direkt nach seiner Meisterprüfung. Er will flache Hierarchien, modernes Design, will mehr und besser produzieren, stellt einen Mitarbeiter nach dem anderen ein, hat immer Expansionspläne, kauft noch ein Haus als Showroom und dann noch die kleine Synagoge auf der anderen Strassenseite. Joana versucht ihn zu bremsen – ob er nicht zwischendurch auch langsamer machen könne? Aber Julian kann nicht.

Als wir mit unserem Rundgang durch sind, setzt sich Julian in den Showroom der Schreinerei.

Julian: «Ich fühle mich manchmal getrieben. Dann fühlt es sich an wie ein Müssen. Ich muss was beweisen, und ich muss weitergehen, da muss noch mehr gehen. Das ist dann ein ganz grosser Druck.»

Ich frage, wann es sich gut anfühle. Julian überlegt.

«Wenn die Mitarbeiter oder Joana oder Lola gut drauf sind, wenn es denen gut geht und ich das bewirkt habe, dann stellt sich bei mir viel Zufriedenheit ein. Wenn die Mitarbeiter mir spiegeln, dass sie die perfekten Bedingungen haben, um sich frei zu entwickeln. Wenn eine Mitarbeiterin sagt, dass sie sich im Betrieb zuvor immer einsam gefühlt habe und dass das hier ganz anders sei. Das hilft mir schon viel.»

Er zögert.

«Das klingt jetzt so, als ob ich gerne anderen Gutes tue, das stimmt auch, aber letztlich ist es eher, dass ich mich machtvoll fühlen möchte. Also dass ich gerne die Macht habe, Bedingungen zu schaffen, die für andere gut sind. Weil das ist das, was ich in unserer Kindheit immer versucht habe zu generieren, und das hab ich viel zu selten oder wahrscheinlich nie erreicht. Und das schlepp ich schon mit mir rum.»

*

Auszug aus der «Wetzlaer Neuen Zeitung» vom 26. Juli 2019:

«Überraschende Wende im Strafprozess gegen zwei 60 und 65 Jahre alte Eheleute, die ihre sieben Kinder über Jahre systematisch misshandelt haben sollen: Am Donnerstag fiel kein Urteil, stattdessen wird es mindestens zwei weitere Termine geben und die Staatsanwaltschaft wird eine Nachtragsanklage vorlegen.

Wie kommt es dazu? Nach Abschluss der Beweisaufnahme stellt sich das Geschehen anders da, als in der Anklage der Staatsanwaltschaft beschrieben. ‹Teile des Geschehens sind von der Anklage bisher nicht erfasst›, sagte der Vorsitzende Richter Reinhard Grün.

Dabei geht es vor allem um die Rolle des Vaters: Ihm war in der Anklage nur eine, der Mutter elf Taten vorgeworfen worden. Richter Grün wies in einem ausführlichen rechtlichen Hinweis am Donnerstag darauf hin, dass für die Rolle des Vaters auch eine andere rechtliche Würdigung in Betracht kommen könne. Nämlich die eines Mannes, der in ein System von Bestrafung und Züchtigung eingebunden war, der um die Rituale und Konsequenzen wusste – und sie hinnahm und akzeptierte, ohne das Martyrium zu stoppen.

Beim vorherigen Termin hatte ein Sohn seinen Vater sogar als treibende Kraft benannt, ihn als ‹Patriarchen› und ‹Vollstrecker› tituliert. Für die Staatsanwaltschaft wird die Würdigung der Rolle des Vaters nun im Zentrum der Überlegungen stehen.»

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Am vierten Prozesstag legt die Staatsanwaltschaft die Nachtragsanklage vor. Mutter und Vater werden nun auch für die Taten des anderen angeklagt, die sie durch Unterlassen mitbegangen haben sollen. Die Staatsanwaltschaft begründet das damit, dass alle Taten Teil des vorher abgesprochenen Bestrafungssystems waren. Da sie nichts gegen das System unternahmen, billigten Mutter und Vater die Übergriffe des anderen.

Die Anwälte erklären, dass nun die Chancen steigen, dass auch der Vater eine Haftstrafe bekommt.

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Julian scrollt durch sein Handy.

«Kommen jetzt noch mehr Artikel? Oder nur der eine?»

Die anderen zucken mit den Schultern. Natascha sagt, ihre Oma habe gesagt, letztens sei auch was im Radio dazu gekommen.

Julian nickt: «Dann schau ich später die ‹Hessenschau›.»

Nach jedem Prozesstag sitzt Julian vor seinem Handy und lauert auf Presseartikel. Er wird im Laufe des Verfahrens so etwas wie der Öffentlichkeitsbeauftragte der vier. Er teilt oft Artikel über den Prozess auf Facebook, antwortet seriös auf jeden Kommentar, gibt einer christlichen Nachrichtenagentur ein Interview.

«Ich hab gemerkt, Zeitungsartikel haben wesentlich mehr Kraft als meine eigene Erfahrung, die ich jemandem weitergebe», sagt er. «Leute, die die ganze Geschichte von mir kennen, kommen jetzt zu mir und sagen, sie hätten ja niemals gedacht, dass das so krass gewesen wär, obwohl ich es ihnen vorher erzählt habe. Das hat mich schon auch frustriert. Zum einen. Zum anderen hat mir das auch den Wert von diesem Prozess gezeigt.»

Zwei Dutzend Personen haben ihn schon angesprochen, darunter viele aus den Gemeinden, aber auch seine Ex-Freundin.

Er zeigt mir einen anonymen Brief von einer Frau, die auch in einer Brüdergemeinde aufgewachsen ist. Sie schreibt, es sei an der Zeit gewesen, dass ehemalige «Versammlungskinder» aufstehen und die dort herrschenden Erziehungsmethoden anprangern.

Julian: «Mich hat auch einer angerufen aus unserer damaligen Gemeinde und gesagt, dass er jetzt Schwierigkeiten habe, weil die im Ort schon checken, dass das die Gemeinde sei. Die müssten sich jetzt Fragen gefallen lassen. Das hat er mir vorgeworfen.»

Julian schnaubt.

«Das finde er ja nicht so gut.»

Wie hast du reagiert?

«Joa», Julian lacht. «Deine Affen, dein Zirkus, hab ich gesagt. Das Problem müsst ihr lösen. Wenn ihr da immer noch keine Antwort drauf habt, dann wird es mal Zeit. Der ist genauso alt wie ich und sagt: Ich hab damit doch gar nichts zu tun. Ja, habe ich ihm dann gesagt, aber seine Institution muss sich auch fragen, wie sie mit Verdachts- oder erwiesenen Fällen von Missbrauch umgeht. Fangt mal irgendwo an. Aber die machen sich da gleich wieder Sorgen um ihre Aussenwirkung.»

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Der Psychologe Michael Utsch von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen sagt, dass er zwar einige jüngere Vertreter von Brüdergemeinden kenne, von denen er ein positives Bild habe, dass er die Traditionalisten und dogmatischen Vertreter allerdings für gefährlich erachte.

Das seien häufig Menschen, die mit sich selber nicht gut klarkämen, denen es nicht gelinge, sich mit der eigenen Sündhaftigkeit anzufreunden, zu sagen, das ist ein Teil von mir. Sie versuchen, ihre negativen Seiten auszurotten. Statt sich mit ihren komplexen Gefühlen auseinanderzusetzen, richten sie all ihre Hoffnung auf das Leben im Jenseits, wo das Böse nicht mehr sein wird.

Der dogmatische Glaube ist ihr Sicherheitskonzept, ihre Leitplanke. Durch ihn können sie der Realität entfliehen und sich eine innere Welt aufbauen, die stabil ist. In einer Gruppe wie den Geschlossenen Brüdern gibt es klare Grenzen, klare Anweisungen. Utsch sagt, das helfe einem labilen Charakter. Es entbinde ihn eigener Verantwortung, und das sei entlastend, wenngleich eine sehr unreife Form zu leben.

Und weil diese Menschen die Dogmatik eben so dringend brauchen, gebe es auch diese grosse Kultur des Vertuschens. Da bringe es auch oft nicht viel, dass man Transparenz theologisch sehr gut mit Bibelstellen begründen könne. Zum Beispiel durch Apostel Paulus, der im Neuen Testament in Anbetracht von Konflikten und Lehrstreitigkeiten in den Gemeinden für Ehrlichkeit plädiert habe. Oder Jesus, der sagt: «Die Wahrheit wird euch frei machen.»

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Am fünften und letzten Prozesstag ist der Zuschauerbereich voller als sonst. Julian sitzt neben Joana. Sie haben ihre zweite Tochter dabei, die drei Monate alte Mimi. Tess sitzt neben ihrer Betreuerin und Natascha neben ihrer Mutter und deren Lebensgefährten. Sogar Vincens’ Mitbewohner ist gekommen.

Der Richter schaut zu Mutter und Vater.

«Sollen zur Nachtragsanklage noch Angaben gemacht werden?»

Zum ersten Mal im Laufe des Prozesses treten nun die Verteidiger der Eltern proaktiv auf. Zunächst liest der Verteidiger der Mutter vor, dass die Mutter durch ihren Alkoholkonsum keine beziehungsweise teilweise nur sehr eingeschränkte Erinnerungen an die Taten habe. In Hochphasen habe sie zwei bis drei Flaschen Wein am Tag getrunken, plus Schnaps. Vor ihrem Mann habe sie die Sucht verheimlicht.

Dann liest die Verteidigerin des Vaters vor, dass jede Form von unkontrollierter, ausartender Gewalt ausschliesslich dem Alkoholkonsum der Mutter zuzuschreiben sei. Alle Taten, die über abgezählte Schläge mit der flachen Hand oder dem Stock hinausgingen, habe er nicht geduldet, geschweige denn selbst ausgeführt. Er habe auch Renatus nie geschlagen und sei auch nie dabei gewesen, wenn seine Frau das getan habe. Das sei nicht Teil des gemeinsamen Bestrafungssystems gewesen.

Als er 2006 oder 2007 von dem Alkoholkonsum seiner Frau erfuhr, habe er mit ihr gesprochen. Die Mutter habe ihre Sucht dann bekämpft, und gemeinsam hätten sie sich von ihrem zuvor strengen Erziehungsstil verabschiedet.

Als die Verteidigerin des Vater fertig ist, räuspert sich die Anwältin der Geschwister.

«Herr Vorsitzender, ich würde gerne mal kurz mit meinen Mandanten sprechen.»

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In der Pause steht Joana vor dem Gerichtssaal, wiegt Mimi hin und her und beobachtet die Geschwister, die sich mit den Anwälten in eine Ecke zurückgezogen haben. Die Anwälte reden. Die Geschwister nicken. Nach ein paar Minuten löst sich die Gruppe auf.

Joana schaut Julian fragend an.

«Ja, Vollkatastrophe», flüstert er. «Die schieben den Vater wieder aus der Schusslinie.»

Joana schaut ihn lange an: «Wann warst du achtzehn?»

Julian: «2003.»

Joana: «Da hat er dir doch noch ein blaues Auge geschlagen. Mit der flachen Hand oder was?»

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Nach der Unterbrechung gehen Clemens und Vincens nacheinander an den Zeugentisch und versuchen die Aussagen der Verteidiger zu entkräften. Doch, der Vater habe Renatus geschlagen. Sehr wohl habe er auch unkontrollierte Gewalt ausgeübt. Und nein, 2006 habe noch lange nichts aufgehört.

Um 10.22 Uhr schliesst der Richter die Beweisaufnahme. Die Abschlussplädoyers beginnen.

Der Staatsanwalt fordert drei Jahre und zwei Monate Haft für die Mutter und zwei Jahre und fünf Monate für den Vater.

Die Anwälte der Geschwister fordern zusätzlich je 70 000 Euro Schadensersatz für Clemens und Vincens.

Die Verteidiger halten dagegen. Es gebe durchaus einiges, das man für die Eltern «in die Waagschale werfen könne», sagen sie.

Julian prustet los.

Beide Angeklagten seien strafrechtlich unbelastet, würden ihre Taten bereuen und hätten sich von Anfang an geständig gezeigt, um den Kindern zu ersparen, vor Gericht aussagen zu müssen. Den Rahmen für die Erziehung habe die Religion gesteckt. Die Angeklagten seien selbst in schwierigen Verhältnissen gross geworden und mit den vielen Kindern völlig überfordert gewesen. Bei den Taten habe die Mutter unter Alkoholeinfluss gestanden, und der Vater habe keine exzessive Gewalt ausgeübt. Sie hätten beide von allein erkannt, dass ihr Erziehungsstil falsch war, sich geändert und würden heute darunter leiden, keinen Kontakt zu ihren Kindern zu haben.

Die Verteidiger beantragen zwei Jahre auf Bewährung für die Mutter und elf Monate auf Bewährung für den Vater.

Der Verteidiger der Mutter: «Ins Gefängnis stecken kann nicht die Lösung sein. Die Angeklagten kümmern sich um den Renatus.»

«Gut», sagt der Richter und stapelt seine Ordner aufeinander. «Dann werden wir uns jetzt beraten.»

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Nach der Urteilsverkündung stehen Julian, Clemens, Vincens und Tess im Flur des Gerichts, und es ist, als wüsste keiner, was zu fühlen sei.

Während die Anwälte, Joana, Natascha und alle anderen Begleiter durcheinanderreden, lehnen sich die vier an Wand und Geländer und starren ins Leere.

Beide Eltern wurden zu Gefängnisstrafen ohne Bewährung verurteilt. Drei Jahre für die Mutter, zwei Jahre und zwei Monate für den Vater. Den Eltern bleibt eine Woche, um Berufung einzulegen.

«Ja, krass», sagt Julian irgendwann.

«Ja, gut», sagt Clemens.

Vincens und Tess sagen nichts.

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Der Rest des Tages verstreicht bei schönem Licht, bei Pizza auf der Terrasse, beim Spielen von Lola und Clemens mit einer Marienfigur, bei Bier im Garten, beim Spazieren über die Felder im Sonnenuntergang, beim Lagerfeuer.

Den ganzen Tag über gibt es immer mal Momente, die der Beginn eines Gespräches über das Urteil sein könnten, aber sie verlaufen ins Leere.

Da ist Julian, der mit Mimi auf dem Arm ans Lagerfeuer tritt und sagt, er fühle sich so erschöpft, viel erschöpfter als an dem Tag, als er aussagen musste.

Da ist Tess, die im Garten auf den Bänken Clemens und Vincens fragt: «Wie finden wir das denn jetzt?» Aber Clemens murmelt nur, er finde das schon gut so.

Da ist Joana, die, als wir gerade heimkommen, sagt, sie habe, als der Richter sprach, daran zurückgedacht, was Clemens mit dem Prozess wollte: dass anerkannt wird, was sie erlebt haben.

«Aber ob das jetzt was bringt?»

Vincens trinkt ein Bier nach dem anderen. Clemens beobachtet ihn, prostet ihm hin und wieder zu oder knufft ihm in die Seite.

Mit den Stunden scheint sich Stück für Stück die Anspannung der letzten Wochen zu lösen. Der Ernst verschwindet aus den Blicken, die Gesprächsthemen werden leichter.

Nur Julian wirkt mit jeder Stunde angespannter. Rastlos läuft er durch Haus und Schreinerei und Garten. Ich höre ihn «diese ganzen Widersprüche» sagen. Und: «Das ist auch keine Reue.»

Als wir einen Moment allein sind, sagt er:

«Ich glaube nicht, dass es schon vorbei ist.»

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Am nächsten Mittag sucht Vincens gerade sechs saubere Weingläser zusammen, als Julian in seine Küche platzt. Seine Stimme überschlägt sich, er redet laut und in einem durch.

Er sagt, in der Verteidigung hiess es, die Eltern hätten nicht gewollt, dass die Kinder vor Gericht aussagen müssen – aber wenn sie in Berufung gehen, sei doch klar, dass alles nur gelogen war.

Er habe sich bisher im Prozess zurückgehalten. Aber wenn die Eltern jetzt tatsächlich in Berufung gehen, dann lege er doch richtig los. Dann karre er alle als Zeugen ran, Leute aus der Gemeinde – warum nicht auch die Oma? Dann ziehe er eine Woche beim Darius ein, bis der auch so weit sei, dass er aussagt.

«Diese ganze Verteidigung hat mich so wütend gemacht. Jedes Argument war ein Schlag ins Gesicht.»

Er schnaubt.

Wenn die meinen, er würde sich noch mal anhören, was die so «in die Waagschale» werfen, dann werfe er auch mal mehr in die Waagschale. Dann rede er mit allen, selbst mit der «Bild»-Zeitung. Mal sehen, wen er alles so kenne.

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Die Nachricht, dass der Vater Berufung gegen sein Urteil eingelegt hat, erreicht die Geschwister am 2. September 2019. Nach Zustellung des schriftlichen Urteils wird er zwei Monate Zeit haben, um die Berufung zu begründen. Wird sie dann zugelassen, beginnt der Prozess von vorn.

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Eine Woche später, am 8. September 2019, schickt mir Julian um 23.41 Uhr eine Sprachnachricht. Über einen Bekannten, dessen Familie in die Gemeinde der Eltern geht, hat er erfahren, dass seine Eltern sich am kommenden Mittwoch in einer sogenannten Bibelstunde vor den anderen erklären wollen. Julian plant hinzufahren, in letzter Sekunde durch die Tür zu huschen und sich in die letzte Reihe zu setzen.

«Wenn die da aufstehen und sich vor dem letzten Publikum, das ihnen bleibt, entleeren, sollen sie wenigstens mich als Zuschauer haben.»

Er klingt fast freudig aufgeregt.

«Das ist so spannend, mir auszumalen, was da passiert. Ich möchte mich da gar nicht festlegen. Zwischen ‹die komplette Wahrheit erzählen und ernsthafte Reue zeigen› bis hin zu ‹Lügenmärchen erzählen› ist da alles möglich.»

Einen Tag später, am 9. September 2019, telefonieren wir. Er ist auf der Autobahn, auf dem Weg zu einem Kunden. Fieberhaft überlegt er, wie er seinen Auftritt angehen soll. Was macht er, wenn sie ihn sofort rauswerfen? Was, wenn sie lügen? Soll er heimlich aufnehmen? Er klingt aufgekratzt und sagt Sätze wie: «Ich will meine Person in den Scheinwerfer dieser dunklen Bühne rücken.» Und: «Ich halte das aus. Ich habe keine Angst.»

Ich spreche mit Clemens über Julians Plan, er sagt, er halte das für falsch, aber Julian sei entschlossen.

In der Nacht von Montag auf Dienstag schickt Julian dann eine Nachricht.

«Ich habe mich überschätzt und mache das am Mittwoch doch nicht. Es ist zu hart.»

Erst zwei Monate später höre ich wieder ausführlich von ihm.

«Hey, sorry für mein Schweigen. Wir sollten unbedingt telefonieren, hier passieren wieder krasse Sachen.»

*

Julian: «Hast du das mit den Anrufen mitbekommen?»

Im Oktober 2019 werden alle Geschwister von den Eltern angerufen. Vincens und Clemens gehen nicht dran. Tess nimmt zweimal ab, weil sie die Nummer nicht kennt, legt aber gleich wieder auf. Julian ist der Einzige, der sich auf ein Gespräch einlässt. Vierzig Minuten telefoniert er mit seiner Mutter. Er sagt, eigentlich sei es ein gutes Gespräch gewesen.

«Sie wollte wissen, ob ich ihr vergeben kann. Ich habe gesagt, dass ich nie daran gezweifelt habe, dass sie mich liebt. Das ist wirklich so. Dass es aber trotzdem eine Menge Dinge gibt, die verhindern, dass wir aufeinander zugehen können. Das hat nichts damit zu tun, ob ich ihr das, was sie mir angetan hat, vergeben kann. Sondern damit, dass sie ein völlig falsches Menschenbild hat.»

Julian erklärt ihr, dass sie extrem unfrei sei, solange sie sich daran klammere, dass eine Frau unter ihrem Mann stehe. Seine Mutter entgegnet, dass diese Hierarchie gar kein so grosses Problem wäre, wenn sie einen anderen Mann gehabt hätte, einen wie ihre Schwestern zum Beispiel.

«Ja, klar macht es einen Unterschied, wer da oben steht, hab ich gesagt. Diktatur ist ja auch nicht Scheisse, wenn der Diktator ein ideales Wesen ist. Aber vor Gericht kannst du nicht sagen: Naja, der Mann, der über mir steht, der hat das so herbeigeführt. Da würde das ganze Gericht lachen. Du gehst jetzt in den Knast dafür, dass du dich dieser Ordnung gebeugt hast. Das konnte sie dann ganz gut annehmen.»

Julian erwischt sich dabei, wie er plötzlich wieder hofft, dass seine Mutter sich ändert. Er wünscht sich, dass sie sich von dieser Ideologie befreit. Nicht für ihn, sondern einfach für sie selbst, weil sie das wert sei. Sich selbst wünscht er, dass er die entscheidenden Sätze sagt. Er will spüren, dass seine Worte diese Macht haben.

Doch dann erfährt er zwei Dinge.

Seine Mutter erzählt ihm, das Ziel ihrer Berufung sei, die Strafe des Vaters auf Bewährung herunterzuhandeln, um sicherzustellen, dass sie weiterhin Renatus versorgen könnten. Nur für ihn nähmen sie das auf sich. Nach Julians Meinung hingegen schieben sie Renatus vor, um sich wieder einmal als Helden feiern zu lassen.

Dann ruft noch die Grossmutter bei Julian an: Jemand aus der Gemeinde der Eltern habe ihr erzählt, die Eltern würden dort berichten, dass sie mit allen Kindern sehr gute Gespräche führen, dass man aufeinander zugehe und Vergebung stattfinde. Es habe sogar ein sehr gutes Gespräch zwischen dem Vater und seinem ältesten Sohn, also Julian, stattgefunden, gibt die Oma wieder. In der Gemeinde freue man sich sehr darüber.

Julian schnaubt.

«Jetzt hatte ich dieses Gespräch mit meiner Mutter, und dann wird das benutzt, um da seinen Ruf aufzupäppeln. Mein Vater hat noch nicht mal versucht, mich zu erreichen.»

Er sagt, sofort fühle er sich wieder machtlos. Und dann sei da auch diese Angst, dass die Eltern so ihre Berufung aufziehen. Sie hätten die Kinder um Vergebung gebeten, würden wieder gute Gespräche mit ihnen führen, müssten für den Renatus da sein, der ja auch nachweislich nicht von ihnen wegwolle.

Julian: «Dann kommen die damit durch. Das Spiel können sie richtig gut.»

Er sagt, er bewundere Vincens und Clemens. Wenn er sich aufrege, winken sie ab und sagen: Ein deutsches Gericht hat sich die Sache ganz genau angeschaut und hat unsere Eltern zu Haftstrafen verurteilt. Da gibt es ein dreissig Seiten langes Urteil. Ob das jetzt einen Monat weniger wird oder nicht, das Urteil bleibt trotzdem bestehen. Trotz all der Verzweiflung, die sie in sich tragen, seien sie in vielen Momenten ziemlich entspannt, viel entspannter als er.

«Clemens und Vincens sind kein Spielball des Kindheitstraumas. Sie sind auch nicht versucht, das zu kompensieren.»

Und er?

«Manchmal denke ich, ich werde jetzt wieder mehr instrumentalisiert als noch vor drei oder vier Jahren. Ich hatte so eine grosse Distanz zu meinen Eltern aufgebaut, dass es keine Schnittstellen mehr gab. Und jetzt wird das wieder gemacht. Sie benutzen mich, und das finde ich Scheisse. Und dann sind meine Gedanken nicht mehr so rational wie sonst. Dann denke ich: Ihr sollt verschimmeln hinter Gittern, bis ihr es mal checkt.»

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Es vergeht fast ein Jahr bis zum Berufungsverfahren.

Clemens wirkt seit dem Urteil gelassener. Er sagt, es habe ihm einen Teil seiner Würde zurückgegeben. Als er und Vincens im Frühling 2020 je 50’000 Euro Schadensersatz von den Eltern bekommen, überlegt er, wieder in die Nähe von Vincens und Julian zu ziehen. Er will mit Vincens zusammen etwas von dem Geld aufbauen. Er sagt, er vermisse seine Familie.

Vincens geht weiter zur Therapie. Jedes Mal, wenn ich mit ihm spreche, wirkt er selbstbewusster. Er erzählt, er habe nun oft diese Momente, da stehe er in seinem Zimmer, höre der Stille zu, und plötzlich werde er von einem Glücksgefühl überwältigt, dass ihm ein Schauer den Rücken hinunterläuft. Im Frühjahr 2020 lernt er seine erste Freundin kennen.

Tess verlängert nach den Anrufen der Eltern ihren Aufenthalt in der Psychiatrie. Sie schreibt eine Liste mit all den Gründen, warum sie keinen Kontakt zu ihnen will, und hängt sie für schwache Momente an die Wand über dem Schreibtisch. Grund Nr. 6: «…weil sie uns manipulieren.» Grund Nr. 11: «…weil es ihnen nicht leid tut.» Grund Nr. 16: «…weil ich die Jungs nicht im Stich lassen will.»

Je näher die Berufung rückt, desto mehr zieht Tess sich zurück. Zwischendurch ist es schwer, an sie ranzukommen. Sie ist überzeugt, dass der Vater freikommt.

Renatus zieht in ein Heim für betreutes Wohnen, nachdem die Eltern als Betreuer entlassen wurden. Tess ist die Erste der Geschwister, die ihn dort besucht. Manfred Becker ist weiter für ihn zuständig.

Gregor bleibt auf Distanz, Darius verschollen.

Julian konzentriert sich wieder auf die Schreinerei und eröffnet einen zweiten Standort. Den Kampf gegen die Eltern lässt er ruhen. Vielleicht habe er sich doch etwas zu sehr in der Rolle des stolzen Häuptlings gefallen, der allein durch seine Ausstrahlung das Böse zittern lässt, sagt er jetzt augenzwinkernd über seinen Plan, die Gemeinde während der Rechtfertigung der Eltern zu infiltrieren.

Am 18. August 2020 entscheidet das Landgericht Limburg über die Berufung des Vaters. Tess ist nicht gekommen, sie sieht sich nicht in der Lage dazu. Julian wurde kurz vor dem Termin ohne Begründung vom Gericht ausgeladen.

Die Verhandlung dauert keine zwei Stunden. Der Richter fragt Vincens und Clemens, ob sie glauben, dass ihr Vater seine Taten tatsächlich bereue. Sie sagen: Nein. Dann bestätigt das Gericht das ursprüngliche Urteil.



// erschienen im Januar 2022