TÄTER UND OPFER
// SZ Magazin

Ein Mann missbraucht seine Tochter sexuell. Er wird verurteilt – und die Familie versucht das Undenkbare: ihm zu verzeihen. Hier erzählen Tochter, Mutter und Vater unter Pseudonym ihre Geschichte


MÄRZ 2012 STUNDE NULL


STEFFI (35)

Der Anruf kam zwei Tage vor den Osterferien. Ich kam gerade vom Arzt, da klingelte das Telefon. Wir möchten Sie bitten, in die Schule zu kommen, Ihre Tochter Bianca sitzt hier, es geht um Missbrauch. In dem Moment war mir alles klar.
Ich habe meinen Mann angerufen und gesagt, die Bianca wurde missbraucht, ich höre mir das jetzt an. Da hat er gestockt.
Okay, tu das.
Man ist wie ferngesteuert. Ich bin losgefahren, mit einer totalen Leere. Und diesem wahnsinnig schlechten Gewissen.

BIANCA (18)

Die Lehrer sagten, was können wir jetzt machen? Wir sind ja auch nur Lehrer. Und ich saß da mit meinen 13 Jahren auf meinem Stuhl mit meinem Glas Wasser und wusste nicht, wohin ich gucken soll. In meinem Kopf war nur: Oh mein Gott, was passiert jetzt? Wird es an die große Glocke gehängt? Fährt die Polizei gleich vor? Nimmt mich das Jugendamt mit?
Der Lehrer sagte: Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, die Mama ist unterwegs. Aber meine Mama hatte mich schon einmal enttäuscht. Ein paar Wochen vorher, als ich nicht zum Abendessen runterkommen wollte. Ich hab geweint und erst so getan, als wäre es nur die Schule. Aber sie hat nicht aufgehört zu fragen, was los sei, und ich hab immer mehr geweint und geweint. Ich hatte keine Kraft mehr, mir noch eine Lüge auszudenken, da habe ich es ihr einfach gesagt. Aber dann ist nichts passiert. Meine Mama hat nichts gemacht. Und mein Papa hat nicht aufgehört. Ich hab gedacht, sie liebt ihn mehr als mich.

STEFFI

Ich bin ins Lehrerzimmer, da saßen drei Lehrer und die Bianca. Da war so viel in ihrem Gesicht: Erleichterung, Angst, Traurigkeit. Die Tränen standen ihr in den Augen. Man sieht sein Kind, und es zerreißt einen. Mir war völlig klar: Dann stimmt das also, und das muss ich jetzt annehmen.

BIANCA

Mein Lehrer hat sie gefragt: Können Sie sich vorstellen, worum es geht? Sie meinte: Ich glaube schon. Dann hat sie angefangen zu weinen. Das war, als würde eine Bombe in meinem Kopf explodieren. Wenn sie es doch wusste, warum hat sie denn nichts dagegen gemacht?

STEFFI

Als sie damals zu mir gesagt hat, dass der Papa nachts kommt und sie anfasst, hab ich die Tragweite nicht erfassen können. Ich dachte, das kann nicht sein. Das geht nicht. Ich hab wirklich gedacht, da ist was anderes, aber das will sie nicht verraten. Mir war das so fern. Ich meine: mein Mann?

BIANCA

Es dauert lange, bis man das verzeihen kann.

STEFFI

Die Lehrer sind mit uns zu einer Erziehungsberatungsstelle gefahren. Dort war alles supernüchtern: Was machen wir jetzt? Okay, besprechen Sie sich mit Ihrem Mann. Bianca sollte bei einer Freundin übernachten. Dann hab ich das organisiert, und da fing dann das Lügen an: Hier ist grad echt Stress, ist das okay, wenn sie bei euch bleibt?

BIANCA

Als ich meine Sachen gepackt habe, dachte ich: Wenn ich jetzt von zu Hause weg muss, bin ich dann an allem schuld?

STEFFI

Ich hab den Rest des Tages in der Küche verbracht. Für mich war klar, wenn er jetzt nicht wenigstens den Arsch in der Hose hat, dazu zu stehen, ist er nicht mehr mein Mensch.
Dann bringe ich ihn um.

VOLKER(38)

Ich hab Bianca nie gesagt, das sei unser Geheimnis. Klar fragste dich da immer, was machst du, wenn das rauskommt? Dann hilft auch kein Verstecken mehr, am besten nimmst du dir einen Strick. Man sagt sich dann immer wieder, du machst es nicht mehr, du machst es wirklich nicht mehr, es kommt nicht mehr vor. Aber ich hab es trotzdem wieder gemacht.
Bis Steffi anrief. Ich war arbeiten. Was soll ich sagen? Scheiße, Scheiße, Scheiße, hab ich gedacht. Und jetzt? Weg? Nicht weg? Strick?
Erst mal weitermachen mit dem, was du hast, hab ich gedacht, und einfach weiter gearbeitet. Vielleicht, um die Normalität aufrechtzuerhalten. Abends bin ich nach Hause. Ganz normal. Pünktlich zum Feierabend. Steffi saß am Küchentisch.
Sie war ruhig, aber konnte es nicht fassen. Konnte nicht fassen, dass so was passiert. Da war viel Wut.

STEFFI

Ich hab gesagt: Das warst du. Er saß da und guckte mich an, schmiss seinen Kopf auf die Tischplatte, guckte wieder hoch, war knallrot und ganz leer im Gesicht und sagte: Ja.

VOLKER

Klar weißt du auch vorher, was du da tust, aber erst in dem Moment kommt es richtig an. Da kannst du nur noch sagen: Jetzt haste die letzten zwanzig Jahre vor die Wand gefahren.

STEFFI

Ich stand da und fragte: Warum? Warum nur?

VOLKER

Das ist die Frage, auf die ich keine Antwort habe.

STEFFI

Bitte, hat er gesagt, hilf mir, jemanden zu finden, der mir helfen kann. Es ist tatsächlich nicht laut geworden. Da war Fassungslosigkeit, Trauer, Tränen. Erschöpfung irgendwann auch.
Er ist nicht dieser abgewichste Typ, der sich nimmt, was er will, ohne Rücksicht auf Verluste – das war er nie. In dem Moment in der Küche war er so menschlich, so nackt, ich konnte kein Monster sehen, nur seine Unfähigkeit, sich im Griff zu haben. Da geht dir durch den Kopf, dass das nicht der Mann gewesen sein kann, den du kennst. Es war nicht er selbst. Unser Leben war keine Lüge, kein Konstrukt. Ich konnte ihn nicht verlassen.

VOLKER

Sie hat nur gesagt: Jetzt fährt die Bianca zwei Wochen zur Oma, in der Zeit müssen wir eine Wohnung für dich finden. Auch wenn ich nicht mehr bei ihnen wohnen könne, würden wir das als Familie regeln. Ich hätte an ihrer Stelle vermutlich den Fernseher gegen die Wand geschmissen.



APRIL – NOVEMBER 2012 PFLICHTEN


Kontrollvereinbarung des Jugendamtes:

Am heutigen Tag, dem 12. April 2012, wurde folgende Vereinbarung getroffen: Ich als Kindesmutter verpflichte mich, keinerlei sexuelle Übergriffe durch den Kindesvater an unserer Tochter zuzulassen be- ziehungsweise zu billigen. Ich als Vater stelle die räumliche Trennung sicher, indem ich aus dem gemeinsamen Haus ausziehe und keinen Kontakt zu meiner Tochter suche.

BIANCA

Ich war seit zwei Wochen nicht mehr zu Hause gewesen, und dann war mein Papa nicht da. Ich dachte, wenn er nicht zu Hause ist, ist er bestimmt im Gefängnis.
Meine Mama hat erklärt, dass er ausgezogen ist. Ich konnte das nicht verstehen. Ich hab mir ja die ganze Zeit eingeredet, dass mein Papa gar nicht böse ist. Ich dachte immer, er schlafwandelt. Weil ich auch eine Zeit lang geschlafwandelt bin und wusste, dass man sich am nächsten Tag nicht mehr daran erinnert. Tagsüber war er ja der Papa, der er immer war.
Aber wenn er das gar nicht wollte, warum zieht er dann aus? Dann hat er ja doch Schuld. Nur, wenn meine Erklärung nicht stimmt, welche stimmt dann?

STEFFI

Abends, wenn ich nicht bei Volker war und die Kinder schliefen, hab ich oft am Laptop gesessen und gegoogelt. Sexualstraftäter, Kindesmissbrauch. Man klickt sich von Text zu Text und liest immer dieses eine Wort: Wiederholungstäter. Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass ich machtlos bin. Von einem Tag auf den nächsten war ich voll mit Ausschlägen. Kann es sein, dass mein Mann pädophil ist? Ich hab ihn nie gefragt. Nur seinen Therapeuten, den wir ihm gemeinsam gesucht haben.

VOLKER

Der Therapeut ist ein Bär. Du kommst rein, das war drei Wochen nachdem das mit der Bianca rauskam, und der ist erst mal einen Kopf größer. So Schultern. Älteres Semester. Gestandener Mann. Dann steht der vor dir mit seinem Rauschebart. Da kommste dir erst mal vor wie ein kleines Kind.
Er fragte: Was ist vorgefallen?
Erst konnte ich nur sagen, da ist diese Sache passiert. Er pochte natürlich darauf: Ja, was ist denn passiert? Passieren kann viel.
Er wollte hören, dass ich sie missbraucht habe. Da merkst du schon beim Reden, was du für ein Arsch bist. Ich hab die Leute, die so was tun, ja immer selbst verurteilt. Sofort aufhängen, hätte ich früher gesagt.

STEFFI

Es war mein Wunsch, mit Volkers Therapeuten zu sprechen. Ich hatte zwei Fragen: Warum? Und: Wie sicher kann ich sein, dass es nicht wieder vorkommt? Der Therapeut hat gesagt, dass es bei ihm definitiv keine Neigung sei. Volker habe unbewusst darauf gewartet, dass ihn jemand unterbricht.

VOLKER

Wenn der Therapeut fragt, weißt du eigentlich, was du deinem Kind damit antust, dann verstehst du: Das geht nicht mehr weg. Da erinnert die Bianca sich in zwanzig Jahren noch dran. Im Grunde war ihre Kindheit komplett für den Arsch. Du musst schon sehr abgewichst sein, um so was durchzuziehen. Ich war nie ein emotionaler Mensch. Aber früher hatte ich mal mehr Mitgefühl. Das hat sich in Afghanistan geändert. Ich war vier Monate dort. Offizier. Ich bin um das Lager spaziert. Auf ein- mal höre ich Schreie, dreh mich um und sehe, wie ein Mann eine Schubkarre schiebt. Darin ein Kind. Elf, zwölf Jahre alt. Verbrannt. Die komplette linke Seite war weg. Die Kleidung war in das Kind eingebrannt. Es lebte. Das war so ein Schlüsselmoment. Wenn ich auf einem Spielplatz Kinder schreien höre, passiert es noch heute, dass ich denke, gleich kommt die Schubkarre. Es gibt so Dinge, die brennen sich in dein Gehirn. Da musst du lernen auszublenden, was andere fühlen, einfach um klarzukommen.

STEFFI

Volkers Therapeut hat mich gefragt, was mein Ziel sei. Ich hab gesagt: Irgendwann als Familie weiterleben zu können. Er hat genickt. Ich hab gefragt, ob er jemanden kennt, bei dem das funktioniert hat. Er hat gesagt, ja, das kann funktionie- ren, aber das sind Geschichten, von denen nie jemand erfährt.

VOLKER

Der Entschluss, mich anzuzeigen, kam von mir. Bevor es das Jugendamt machen konnte. Der Anwalt hat einen Termin ausgemacht. Die Steffi wollte mit. Mir saß ein Kommissar gegenüber. Ganz trockener Typ. Hat nur stumpf gefragt und geschrieben.
Auszug: In der Zeit von März 2011 bis März 2012 begaben Sie sich an zehn Tagen jeweils zwischen 2 und 3 Uhr morgens in das Kinderzimmer Ihrer leiblichen Tochter. Während Sie auf der Bettkante saßen bzw. vor dem Bett knieten, streichelten Sie Ihre in deren Bett liegende Tochter am ganzen Körper, unter anderem auch an der Brust und an der Scheide, und küssten sie am Oberkörper.

STEFFI

Ich saß da und hatte Schweißausbrüche. Als der Polizist fragte, ob Penetration stattgefunden hat, hab ich gedacht, ich will das gar nicht wissen. Will ich das wissen? Nein, hat nicht stattgefunden. Okay.

VOLKER

Der Kommissar hat gesagt, dass er zwei Kinder hat. Ich weiß auch nicht, warum.

BIANCA

Als der Prozess von Papa in Gang kam, wurde ich oft gefragt, ob ich bereit wäre, bei Gericht auszusagen. Ich hab immer Nein gesagt.
Allein wenn ich daran dachte, zog es mich schon runter. Ich war gereizt und in mich gekehrt. Hätten die mich nach Details gefragt, wäre ich die Traurigkeit bestimmt nicht mehr losgeworden. Vielleicht hätte sie überhandgenommen und ich das Glücklichsein verloren.

Urteil vom November 2012:

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wird gegen Sie eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr festgesetzt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.



DEZEMBER 2012 – JANUAR 2014 ANNÄHERUNG

VOLKER

Wenn du alleine bist, lässte dir alles durch den Kopf gehen und kommst zu keinem Punkt. Du weißt, es war falsch, aber da hört es auf.
Warum hast du das getan? Wieso konntest du dich nicht bremsen? Wo liegt wirklich der Hund begraben? Hast du zu wenig Liebe bekommen? Hat die Steffi damit zu tun? Ist es ein genetischer Defekt? Einen starken sexuellen Drang, den hab ich schon. Studien sagen, jeder Mann denkt fünfmal am Tag an Sex, da bin ich im guten Durch- schnitt. Aber ich will das ausleben. Ist das normal, dass man es sich so oft vorstellen kann mit x-beliebigen Leuten? Auch wenn man die gar nicht kennt, nur sieht, beim Einkaufen, in der Disko? Also: Warum so viel Sex?
Du sitzt da. Es zerfrisst deinen Kopf. Du denkst: Was, wenn Bianca nie wieder mit dir reden will? Du verkriechst dich. Du weinst. Bist traurig. Bist wütend. Drehst dich immer wieder im Kreis und kannst nie sagen: Das ist der Grund.
Du versuchst, dich zu beschäftigen. Aufstehen, auf Klo, umschalten, Zigarette rauchen. Und wenn es nur eine Schublade ist, die du aus- und wieder einräumst.

BIANCA

Gehasst habe ich meinen Papa nie. Ich war einfach supersauer. Nicht nur auf ihn, auch auf meine Mama, auf meinen Bruder Phil. Ich hab das System Familie gehasst.

STEFFI

Nach außen war Bianca nicht anders als früher. Innen hat es sie zerrissen, glaube ich. Aber sie hat sich bemüht, alles aufrecht zu halten.
Für mich war klar, dass der Alltag weitergehen muss. Sonst gehen wir daran zugrunde. Das Ganze hat sowieso alles bestimmt, deshalb haben wir zu Hause selten darüber gesprochen. Ich hab der Bianca gesagt, ich kann das nicht, weil ich gar nicht den Raum finde, mich damit auseinanderzusetzen. Ich glaube, wir wollten das beide nicht.

BIANCA

Wir haben einfach so getan, als wäre alles super tippi toppi. Wir haben nie mit anderen Leuten darüber geredet. Das hat mich total gestört. Ich hatte das Gefühl, alles wird unter den Teppich gekehrt.

STEFFI

Man geht nicht öffentlich damit um. Nachher rücken noch Freunde von Bianca ab, weil deren Eltern wegen Volker panisch werden. Davor musste ich sie be- schützen.

BIANCA

In dem Jahr, in dem es passierte, konnte ich es oft nicht ertragen, wenn meine Freunde glücklich waren. Manchmal bin ich lauter geworden. Und jetzt wollte ich ihnen alles erzählen, damit sie verstehen, warum ich so gewesen war. Durfte ich aber nicht.

STEFFI

Ich hab sie anders behandelt als ihren Bruder Phil. Ich dachte, ich müsste mich aufreiben als Wiedergutmachung. Mehr Verständnis für sie haben. Ihr Dinge erlauben, die ich unter anderen Umständen nicht erlaubt hätte. Sie war in zwei Tanzvereinen, da hätte ich sonst gesagt: Komm, einer reicht.

BIANCA

Ich fand schon gut, dass sie sich gekümmert hat, aber innerlich war ich trotzig. Nach dem Motto: Warum kümmerst du dich jetzt auf einmal um mich? Warum hast du es damals nicht geschafft?

STEFFI

Am Anfang kamen wir mit dem Jugendamt gut klar. Die ersten Sachbearbeiterinnen haben uns erklärt, das Wichtigste sei, was Bianca will. Doch irgendwann war der Leiter für uns zuständig. Und dann spielte das keine Rolle mehr, es wurde direkt entschieden, dass das nicht geht, sich nach ihr zu richten.
Als ich dann noch meinte, dass die Partnerschaft allein unser Bier ist, ging es richtig los. Ob denn mit mir alles in Ordnung sei?
Die Leute gehen davon aus, dass die Liebe einer Ehefrau nach so einer Tat einfach weg ist. Aber es wird doch auch Eltern nicht abgesprochen, dass sie ihre Kinder lieben, wenn der Sohn jemanden totgeprügelt hat oder 140 Leute mit dem Flugzeug hat abstürzen lassen.
Mir wurde das abgesprochen.
Ich war für das Jugendamt die Frau, die nicht sehen will. Aber für mich war die Lage die: Es ist passiert, und es darf nie wieder vorkommen. Aber die 95 Prozent, die ihn sonst ausmachen, die muss ich nicht zertrümmern.

VOLKER

Ich hatte das Bedürfnis, mich mehr zu entschuldigen, als machbar ist. Aber das wird dir genommen, wenn du keinen Kontakt zu Bianca haben darfst. Später hab ich gemerkt, dass Bianca versuchte, mir was über die Steffi auszurichten. Wie: Er- zähl dem Papa, ich hatte eine Zwei in Biologie. Oder sie hat der Steffi die Matheaufgaben mitgegeben, damit ich die unterschreibe, obwohl das auch die Mama hätte machen können. Das waren Glücksmomente, weil ich kurz der sein durfte, der ich vorher war.

BIANCA

Irgendwann habe ich entschieden, dass ich dem Ganzen nicht so viel Raum geben kann. Ich habe angefangen, daran zu denken, was für tolle Sachen mein Papa mit mir gemacht hat. Ich war ja immer das totale Papa-Kind und habe ihn richtig angehimmelt. Er ist so lustig. Immer wenn Phil und mir ein bisschen langweilig war, hat er sofort gefragt, worauf wir Lust hätten, und überlegt, was wir machen könnten. Er kam auf ganz verrückte Ideen. Wir hatten französische Nachbarn, und die stehen ja so auf Schnecken. Dann hat mein Papa mit uns alle Schnecken gesammelt und denen bei uns ein Zuhause gebaut. Wir haben aus leeren Eispackungen und Steinen einen Wasserpark gebaut, da konnten die klettern.
Man hat auch immer gemerkt, dass mein Papa stolz auf Phil und mich ist. Auf Familienfesten hat er mit allen über uns geredet.
Er hat richtig angegeben.
Das wollte ich wiederhaben. Es ging nicht darum, dass ich meine heile Welt zurückhaben wollte, sondern einfach meine Welt, meine Familie, auch wenn die ein bisschen kaputt ist. Das darf die ruhig sein. Mein Leben ist eben mehr als dieses eine Thema. Alle Menschen, mit denen wir deswegen zu tun hatten, haben nicht nach links und rechts geguckt. Immer nur: Die böse Mama hat sich nicht gekümmert. Der böse Papa hat das Kind angefasst. Ja, mein Gott, aber es gab mehr als das. Wenn ich gesagt hab, ich möchte meinen Papa aber irgendwann wiedersehen, musste ich mich jedes Mal er- klären. Wollen die mich verarschen? Hatten die denn keine Eltern?

STEFFI

Das Jugendamt wollte einen Therapeuten für Bianca suchen. Ich habe vorgeschlagen, mit ihr zu einem Trauma- Psychologen zu gehen. Das wollten die nicht. Der würde von der Krankenkasse bezahlt und müsste wegen der Schweige- pflicht dem Jugendamt keine Auskünfte geben. Dann kam vom Amt der Kommentar: Wenn Sie nicht für nötig erachten, auf uns zu hören, können wir Bianca auch fremd unterbringen.

Das sitzt. Aber wie willst du dich da wehren? Das Jugendamt hat dann eine Sozialpädagogin für Bianca gefunden: Frau Lange. Aber Bianca hat mit ihr nur über die Schule geredet.

BIANCA

In der Schule hatten wir das Thema Abwehrmechanismen. Verdrängen ist etwas ganz Normales. Der Körper macht das, um klarzukommen. Aber die vom Jugendamt sagten, ich muss das jetzt aufarbeiten, damit mich das mit dreißig nicht beschäftigt. Ich denke eher: Warum soll ich mich jetzt damit plagen, mir reicht es. Dann kommt das mit dreißig noch mal hoch. Ja und? Ich krieg es doch sowieso nicht weg. Ich glaube, die konnten nicht verstehen, wie ich so sein kann, so normal. Die dachten echt, ich muss gestört sein, damit ich normal bin. Und ich dachte: Warum kann ich nicht einfach normal sein?

STEFFI

Die Drohung des Amtes, sie mir wegzunehmen, stand die ganze Zeit im Raum. Aber Bianca wollte Kontakt zu ihrem Vater. Wenigstens erlaubten sie irgendwann, dass sich Volker und Bianca SMS schreiben.

VOLKER

Die erste Kontaktaufnahme kam von Bianca. Sie hat die Whatsapp- Gruppe am 17. Dezember 2012 eröffnet. Mitglieder: Steffi, Phil, Bianca und ich.

BIANCA

Ich hatte den Eindruck, dass er eigentlich die ganze Zeit traurig ist. Aber als wir schreiben konnten, war er glücklicher. Später haben wir auch zu zweit geschrieben.

VOLKER

Alles, was ich tun konnte, war zeigen, dass ich es auch anders kann. Mal abends schreiben: Alles gut bei dir? Hab dich lieb.
Wenn sie mir was erzählte, was die Mama nicht wusste, gab mir das das Gefühl, ich bin wer, ich bin groß für sie.

BIANCA

Dann kam dieser Nachmittag. Ich hatte meiner Mama gesagt, dass ich nicht zu Hause bin und war es doch. Papa wollte was abholen.

VOLKER

Du gehst da rein und denkst, scheiße, jetzt ist sie da.

BIANCA

Wir hatten einen großen Esstisch, da saß ich am Laptop. Ich bin ein- fach sitzen geblieben.

VOLKER

Dass ich sie umarmen durfte, war natürlich schön.

BIANCA

Ich war total überfordert. Aber als er dann auch so überrascht war, hat mich das erleichtert. Ich hab mir gesagt: Das ist nur mein Papa. Ich wollte ihn doch immer sehen. Er hat geflüstert: Es tut mir leid, es tut mir alles so leid.

STEFFI

Danach habe ich die Kontrollvereinbarung eigenmächtig aufgehoben. Ohne Wissen des Jugendamtes natürlich. Aber ich war immer dabei, wenn sie sich sahen.

BIANCA

Um mich bei den Treffen sicher zu fühlen, wollte ich wissen, warum er das getan hat. Ich hab recherchiert, was Auslöser dafür sein können.
Ich hab viel darüber gefunden, dass das durch Alkohol sein kann. Aber ich wusste, mein Papa trinkt nicht. Dann hab ich gesehen, dass manche Männer das einfach wollen. Die stehen auf Kinder. Nicht nur auf die eigenen, sondern auch auf fremde. Ich hab mich erinnert, wie er zu meinen Freunden war. Da war nichts.
Im Internet stand auch, dass wenn man selbst Gewalt erlebt hat, man das so ablässt. Aber wenn es in seiner Familie so schlimm war, dann können die sich Weihnachten doch nicht so gut verstehen, oder?
Die vierte Möglichkeit war eine Posttraumatische Belastungsstörung. Ich wusste, mein Papa war Soldat, und irgendwas muss er ja erlebt haben, es geht ja keiner in den Krieg und sagt, es ist ja total schön hier, ich pflück Blümchen. Das konnte ich verstehen. Hauptsache, nicht diese Neigung.

VOLKER

Wenn Umarmungen aus dem Moment heraus passiert sind, weil sie sich über ein Geschenk freute oder so, habe ich mir keine Sorgen gemacht. Wenn das ein bewusstes Umarmen war, Hallo und Tschüss, habe ich mich schon gefragt, ob das richtig ist. Oder macht sie das, damit sie mich nicht vor den Kopf stößt?

BIANCA

Ich hab mich immer gefragt, was er dabei empfindet. Ob ich, wenn ich ihn umarme, irgendwas auslöse, so dass er wieder das Bedürfnis hat, so was zu machen. Es war auch komisch, weil meine Mama immer so genau darauf geachtet hat, wie wir aufeinander reagieren.

STEFFI

Ich hatte keine Angst, dass es wieder passiert. Ich war ja die Kontrolle.

VOLKER

Ich glaube, dass es manchmal doch besser gewesen wäre, wäre ich nicht da gewesen. Ich bin doch für Bianca das, was Kinderschreie auf einem Spielplatz für mich sind. Aber ich bin trotzdem da. Weil ich meine Frau und meine Kinder immer noch liebe.

STEFFI

Bianca hat zu Frau Lange gesagt, sie möchte, dass die Kontrollvereinbarung aufgehoben wird. Das Amt hat entschieden, dass begleiteter Umgang besser wäre. Also: alle vierzehn Tage Volker und Bianca mit Frau Lange.

BIANCA

Ich hab mich gefragt, was Frau Lange wohl erwartet von unserem ersten Treffen. Es wusste ja keiner, dass wir uns heimlich schon längst gesehen haben. Ich hab ihn umarmt. Wenn sie keine Tomaten auf den Augen hatte, hätte sie merken müssen, dass etwas nicht stimmt.

VOLKER

Die Frau Lange war eine Pädagogin durch und durch. Egal was ich gesagt habe, sie hat ein Musterbeispiel daraus gemacht.

BIANCA

Wir haben uns die ganze Zeit über Frau Lange lustig gemacht.

VOLKER

Wir verstanden uns ohne Worte. Wenn ich auf eine bestimmte Art ge- guckt habe oder hmm gemacht, dann konnte Frau Lange das nicht verstehen, aber Bianca fing an zu lachen. Da war dieses Gefühl von früher: ein Team.

BIANCA

Einmal, nachdem meine Eltern mit Freunden unterwegs waren, hat meine Mama gefragt: Ist das okay, wenn der Papa hier schläft? Sonst muss er noch nach Hause fahren. Und ich so: klar. Sie: Ist es wirklich okay? Da hab ich gedacht: Wieso fragst du mich eigentlich, ich kann doch eh nicht Nein sagen. Du bist meine Mama. Ich will dich nicht enttäuschen.
In dieser allerersten Nacht dachte ich: Was mache ich, wenn jetzt doch was passiert? Ich darf nicht wieder so tun, als würde ich schlafen. Ich muss was tun, ihn wegdrücken, ihn fragen, was das soll. Ich war total aufgeregt, konnte nicht einschlafen, bin die ganze Zeit wach geworden.

VOLKER

Ich bin ein Mensch, der permanent wach wird, ich schlafe zwei, drei Stunden, dann gehe ich aufs Klo oder spazier durch die Bude. Aber in so einer Situation verhältst du dich anders. Du überlegst, stehste auf oder bleibste lieber liegen? Trittst der Steffi vors Schienbein, damit sie wach wird und sieht, der kommt direkt wieder? Du bewegst dich anders, fabrizierst mehr Geräusche, klapperst extra noch mal mit der Zahnbürste.

BIANCA

Auch nach dem dritten Mal hab ich mich noch unwohl gefühlt, weil mein Papa auch früher nicht jede Nacht kam. Es hätte auch beim vierten Mal passieren können. Dann haben die Zweifel angefangen. Kann ich wirklich wieder wie früher mit meinem Papa umgehen? Und: Wenn alle sagen, das ist nicht normal, vielleicht ist es das wirklich nicht?

VOLKER

Seitdem das rausgekommen ist, war das Gefühl, du musst da reingehen, komplett weg. Das wird nicht mehr vorkommen. Nicht mit Bianca und nicht mit Kindern. Ich werde nicht erregt, wenn ich eine Horde Kinder sehe. So ist das nicht. Um Bianca an sich, meine Tochter, mein Kind, ist es nie gegangen. Ich hab mich nicht von ihr angezogen gefühlt. Im Prinzip habe ich mich nur selbst befriedigt. Da musste aber jemand sein. Damit du was anfassen kannst. Mit Bianca war es einfach. Einfach und schnell und billig.

STEFFI

Das Jugendamt wollte irgendwann, dass die Bianca und ich in einer Kinderschutzambulanz begutachtet werden. Erst wollte ich nicht. Dann war da wieder die Drohung vom Amt: Wenn ich nicht kooperiere, nehmen sie mir Bianca weg.
Ich war mit einer Familienrechtsanwältin in Kontakt. Sie sagte, dass wir auf Zeit spielen müssen, denn ab dem 16. Lebensjahr gilt vor Gericht, was das Kind wünscht. Bianca war 15. Also ging ich hin. Drei Termine. Sie haben mir eine Therapie empfohlen, um meine Mutterrolle auszudefinieren. Bianca hat sich ja geweigert, mit Frau Lange über die Tat zu sprechen. Und die meinten nun, ich würde sie manipulieren, damit sie schweigt. Ich würde in einem inneren Konflikt zwischen ihr und ihrem Papa stehen. Ich hätte mir eigentlich gewünscht, dass jemand wirklich versucht, Bianca zu helfen, anstatt wieder nur Schuld zuzuweisen.
Das Amt hat dann zwei Therapieplätze für Bianca und mich gefunden. Und sie haben wieder gefordert, dass ich mich von Volker trenne. Das ging so weit, dass ich überlegt habe, ob wir das dem Jugendamt vorspielen. Aber dann kam ja schon die tatsächliche Trennung.


JANUAR 2014 TRENNUNG

VOLKER

Steffi und ich haben anders miteinander gesprochen, nachdem es rauskam. Oberflächlicher. Nur mehr über so Dinge wie den Einkauf.
Als wir das erste Mal wieder Sex hatten, Monate danach, hab ich ihr angemerkt, dass was nicht stimmt. Am Gesichtsausdruck. An der Reglosigkeit. Wir haben aufgehört. Anfangs dachte ich, dass sie nur bei mir geblieben ist, um das Bild aufrecht zu halten. Jede normale Frau wäre gegangen. Aber manchmal, wenn wir uns in den Arm genommen und zusammen geweint haben, war dieses Wirschaffen-das-Gefühl da. Da muss ein bisschen Liebe sein.

STEFFI

In der Therapie habe ich angefangen zu sehen, was schiefgelaufen ist. Eigentlich hab ich den Nährboden für diese Tat gelegt.

VOLKER

Steffi kam zu mir und sagte: Vielleicht bin ja ich ein großer Grund dafür gewesen. Ich hab das abgetan. Kannst ja schlecht sagen, ja, vielleicht. Aber ich habe gedacht: Gut, dass das mal jemandem auffällt. Mein Therapeut hat auch gesagt, dass die Steffi eine große Rolle spielte mit ihrem Kontrollwahn. Ständig: Wo bist du? Was machst du? Triff niemanden! Ich ging nur ans Handy, schon kam: Wer war das? Du fängst an, dich von Freunden zu distanzieren. Die Wut staut sich. Du wirst aggressiv. Und irgendwann platzt du. Aber man kann nicht sagen, die Steffi ist schuld. Getan habe ich das.

STEFFI

Ich habe Volker in unserer Beziehung keine Macht gelassen, er hat sie sich dann bei Bianca geholt. Das ist mein Anteil an der Geschichte. Als mir das klar wurde, wusste ich nicht damit umzugehen.
Daneben hat mich der Alltag zerrissen. Das Aufteilen zwischen Kindern und Mann. Das Jugendamt. Die Pubertät der Kinder. Volker hatte einen neuen Job als Berufskraftfahrer und war ständig unterwegs. Er war gereizt, schlecht gelaunt, total negativ. Alle diese Probleme hatte ich nur wegen ihm, aber er hatte das leichtere Leben.
Alex war meine Rache. Ich kenn ihn noch aus Teenie-Tagen und war immer etwas in ihn verliebt. Wir haben uns über Stayfriends wiedergefunden, ein Jahr nachdem alles rauskam.

VOLKER

Der war immer ein rotes Tuch gewesen für mich. Ich hab den vor zwanzig Jahren kennengelernt, und das Erste, was ich dachte, war: was ein Lackaffe.

STEFFI

Volker hat immer gesagt, wenn du irgendwann weg bist, dann wegen dem. Und dann hat mir Alex gesagt, dass es ihm früher wie mir ging. Alex war ruhig. Und ich glaube, das hab ich mir davon versprochen: zur Ruhe kommen.

VOLKER

Sie hat mir nicht erzählt, dass da was lief. Immer nur: Lass mich mal, ich unterhalte mich nur mit dem. Blablabla. Aber ich bin ja nicht blöd. Ich hab seine Adresse rausgefunden. Dann stehste bei dem vor der Tür und siehst, ihr Auto ist auch da. Ich frag sie: Und was war gestern Abend? Sagt sie: Ach nichts, früh im Bett gewesen.

STEFFI

Ich dachte: Und jetzt leidest du.

VOLKER

Wäre der mir untergekommen, der wäre hundertprozentig mehr als einmal auf dem Boden gelandet. Ich hätte den zerlegt. Ungelogen.

STEFFI

Ich habe die Beziehung mit Volker noch bis Januar 2014 aufrechterhalten, dann ging es nicht mehr. Volker kam nach der Arbeit zum Essen zu uns, und ich habe gesagt: Ich kann nicht mehr. Er hat mich angeguckt: Also ist es vorbei? Er hat sein Besteck fallenlassen und ist abgerauscht.


FEBRUAR 2014 – FEBRUAR 2015 ESKALATION

VOLKER

Mir war klar, wenn du jetzt nicht handelst, ist Steffi für immer weg. Dann kommt die nicht mehr zurück. Wir haben uns ja immer noch alle paar Wochen wegen der Kinder gesehen. Ich hab ihr Blumen mitgebracht, ich hab ihr den Garten gemacht. Im Gegenzug ist sie zu dem Typen gefahren. Dann, im Sommer 2014, fing es an zu eskalieren.

STEFFI

Das war Psychoterror.

VOLKER

Ich bin wieder bei ihm aufgetaucht. Ihr Auto stand vor der Tür. Ich hab Sturm geklingelt. Irgendwann macht er die Balkontür auf: Was soll das? Ich sag: Halt die Fresse, wo ist die Steffi? Er: Die ist nicht hier. Ich sag: Hol sie, ich will mit der reden.

STEFFI

Er wollte immer reden. Ich nicht.

VOLKER

Ein paar Tage später bin ich zu ihr nach Hause, weil wir lose verabredet waren. Sie war aber nicht da, und die Kinder wussten auch nicht, wo sie ist. Ans Handy ging sie auch nicht. Ich wäre fast geplatzt.

STEFFI

Ich war einkaufen und hatte das Handy im Auto gelassen. Auf dem Rückweg erreichte er mich: Wo ich denn stecken würde? Die Kinder hätten langsam mal Hunger. Da dachte ich: Du willst mir was über unsere Kinder erzählen?

VOLKER

In der Zwischenzeit hatte ich schon zwanzig Mal an gerufen und 27 böse SMS geschrieben.

STEFFI

Als ich beim Bahnübergang ankam, ging die Schranke zu. Ich dachte, jetzt auch noch das, und dann den am Telefon. Da kam es von ganz unten hoch: Alle zerren an mir, keiner ist zufrieden, jeder will reden, keiner will zuhören. Es hat mich komplett überrollt.

VOLKER

Irgendwann frag ich sie: Wo biste jetzt? Und sie: Ich komm nicht nach Hause. Ich spring vor den Zug.

STEFFI

Eine Bekannte war zwei Wochen vorher genau da vor den Zug gesprungen. Ich dachte, einfacher geht’s doch nicht.

VOLKER

In dem Moment ist auch eine Steffi nicht mehr berechenbar. Ich bin im Sturzflug dahin. Mit 180 über die Landstraße.

STEFFI

Er hat sich zu mir ins Auto gesetzt, und ich hab alles rausgelassen. Endlich war der Hass da.

VOLKER

Die hat geweint, hat geschrien und immer wieder gesagt, dass ich alles kaputtgemacht habe, dass sie nicht mehr kann, dass sie nicht mehr will. Es war heftig. Irgendwann war die Windschutzscheibe kaputt.

STEFFI

Ich hatte nie Zeit, mich an ihm auszulassen. Das kam dann in diesem Moment. Zwei Jahre später. Ich musste sehen, dass er meine Wut aushält. Irgendwann wurde ich ruhiger. Das war mein Moment des Wachwerdens, ich dachte: Alter, habe ich hier ernsthaft gerade überlegt, mich umzubringen?
Ich muss zu meinen Kindern.
Kurz danach, im August 2014, hat sich das mit Alex erledigt. Aber es gab kein Zurück zu Volker. Ich war zum ersten Mal seit meiner Jugend eine Zeit lang Single und hatte ständig Sex mit fremden Männern. Ich hab Wut weggevögelt. Es war befreiend. Und natürlich auch schön, weil mir bewusst wurde, dass ich durchaus begehrenswert bin.

VOLKER

Und komischerweise kam irgendwann ich dann wieder ins Spiel. Wir hatten noch denselben Bekanntenkreis und waren wieder alle zusammen unterwegs.

STEFFI

Hin und wieder sind Volker und ich im Bett gelandet. Wenn er mich dann in den Arm genommen hat, hatte ich kurz das Gefühl, die Welt wird wieder gut. Aber ich hatte Angst, noch einmal auf die Fresse zu fallen.
Dann kam Karneval. Wir saßen zu viert am Kneipentisch, ich wollte nach Hause, Vol- ker nicht. Ich: Bleib halt hier, ist mir doch egal. Später schreibt eine Freundin: Volker sitzt hier und weint. Ich hab ihn angerufen. Da ging es los: Die Schuld frisst mich auf, ich kann nicht mehr. Ich war schlagartig nüchtern, habe ihn abgeholt und erst mal im Gästebett geparkt. Im Halbschlaf fing er an zu weinen, so kenne ich ihn nicht. Das hat er immer versteckt. Aber ich dachte, ich kann nicht zu ihm zurück. Mein Vertrauen war weg. Ich dachte, dass er immer noch auf alles springt, was nicht bei drei auf dem Baum ist.
Er suchte seine Hose, holte das Handy raus und sagte: Lass mich eine Stunde schlafen und lies alle Nachrichten. Geh überall rein.
Ich hab stundenlang gelesen, Facebook, Whatsapp, SMS, alles, und gemerkt, das Bild, das ich von ihm hatte, finde ich hier nicht. Der ist gar nicht so triebgesteuert. Er hat anderen Frauen geschrieben, dass er mich vermisst. Allein mit schönen Worten hätte ich das nicht geglaubt. Aber so bekam ich das Stück Sicherheit zurück, das mir fehlte, um es zu versuchen. Geliebt habe ich ihn immer.



FRÜHJAHR 2015 – FRÜHJAHR 2016

AUSSPRACHE



BIANCA

Ich habe Hannes bei einer App kennengelernt. Das ist voll peinlich. Ich hab mich da nur angemeldet, weil eine Freundin sich angemeldet hat. Sein Bild war so niedlich. Er hatte einen ganz langen Hals da drauf, aber das fand ich nicht hässlich. Nach drei Wochen haben wir uns das erste Mal geküsst.
Ich hab ihm alles erzählt. Wenn ich mal eine schlechte Woche habe und allein sein muss, soll er das verstehen. Ich hab gesagt, du kannst mich alles fragen, was du magst. Er wollte wissen, ob es für mich schlimm ist, meinen Papa zu sehen. Am Anfang hatte er ein komisches Gefühl, wenn er meinen Papa gesehen hat. Aber mit der Zeit hat sich das bei ihm normalisiert.
Was ich nicht haben kann, ist, wenn Hannes in meinen Nacken redet oder da hinein atmet. Dann schüttelt es mich. Weil bei Papa lag ich auch immer weggedreht, und er war hinter mir.
Aber das versteht Hannes.

VOLKER

Hannes tut ihr auf jeden Fall gut. Der ist super, gar keine Frage. Aber er ist manchmal ein bisschen genervt von der Bianca, weil die genauso fordernd sein kann wie ihre Mama.
Will sie natürlich nicht hören.

STEFFI

Wenn die streiten, redet sie ihn regelrecht an die Wand. Mich beunruhigt, dass sie meine Fehler wiederholen könnte.

BIANCA

Ich mochte meine neue Therapeutin Frau Ehlert sofort. Sie ist aufmerksam. Wir waren ziemlich schnell offener miteinander. Ich habe ihr gesagt, dass ich glaube, dass mein Papa das wegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung gemacht hat und dass das eine Erklärung ist, mit der ich leben kann, die mich nicht traurig macht und auch nicht wütend. Aber sie fand das nicht plausibel. Sie hat vorgeschlagen, ihm einen Brief zu schreiben. Ich hatte gleich eine genaue Vorstellung, was ich schreiben will. Ich wollte nicht, dass es zu sehr nach »ist schon okay« klingt. Es sollte ernst und streng sein.

Auszug aus Biancas Brief:

Hallo Papa, heute wollte ich anfangen, mit dir über das, was passiert ist, zu schreiben. Es ist ziemlich schwer für mich. Meine Angst ist, dass wir uns dann nicht mehr gut verstehen.
Worüber ich am meisten nachdenken muss, ist die Frage, warum du das gemacht hast. Bis heute habe ich einfach nie verstehen können, wie ein Papa so was seiner Tochter antun kann. Ich denke, dass ich es nie nachvollziehen kann, aber vielleicht kannst du es mir erklären. Bitte schicke deine Antwort an Frau Ehlert, damit sie mich beim Lesen »unterstützen« kann. Mir würde es alleine sehr schwer fallen, und ich möchte, dass sie mir ein bisschen hilft.
Deine Bianca!

BIANCA

Jedesmal, wenn ich bei ihr war, habe ich gefragt: Und? Ist schon was da? Als der Brief dann kam, war ich überfordert. Mein Herz hat ganz schnell geschlagen.

Auszug aus Volkers Brief:

Hallo liebe Bianca, Es ist noch ein weiter Weg, bis ich deine Frage nach dem Warum beantworten kann.
In den letzten drei Jahren habe ich viele Gespräche mit meinem Therapeuten geführt. Dabei habe ich viel über mich gelernt. Z.B. dass ich nie gelernt habe, über meine Gefühle und Wünsche zu sprechen, und immer das Gefühl hatte, dass sich alles in mir staut und ansammelt. Ich war damals mit der Beziehung zwischen deiner Mama und mir sehr unzufrieden, aber ich habe mich nicht getraut es anzusprechen.
Bei der Arbeit war es genauso.
Irgendwann kam dann das Gefühl, die Kontrolle haben zu wollen, und dabei habe ich dann die Kontrolle verloren.
Es klingt vielleicht nach wenig, aber für mich war es bis jetzt ein langer Weg. Ich hab dich lieb Papa

BIANCA

Im ersten Moment hab ich wirklich gedacht, will er mich verarschen, wo ist denn jetzt die Antwort in diesem Brief? Hätte sein Therapeut ihn nicht dazu bringen müssen, langsam mal eine Erklärung zu finden? Wäre das nicht angebracht? Aber irgendwann hab ich es akzeptiert. Selbst wenn er mir jetzt einen Grund geschrieben hätte, es hätte ja nichts geändert. Es wäre trotzdem passiert, wäre supertragisch, superdoof, superverletzend und superscheiße gewesen.

VOLKER

Die Steffi und ich waren seit dem Abend, als ich ihr mein Handy gab, wieder zusammen, aber wir sind es diesmal langsam angegangen.

STEFFI

Ich habe angefangen, die Dinge nicht nur beim Therapeuten zu besprechen, sondern die Veränderung zu leben. Das sind zum Teil ganz banale Dinge, so was wie: nicht mehr alles zu kontrollieren. Weniger zu planen. Den Dingen ihren Lauf las- sen. Das war schwierig am Anfang, aber es tat auch gut. Wenn Volker sich früher zurückgezogen hat, war das für mich: Er will mich nicht sehen. Dabei braucht er ein- fach nur Ruhe.

VOLKER

Man kann keinen Menschen von Grund auf ändern. Aber wir reißen uns beide zusammen.

STEFFI

Früher war ewige Treue eine Art Bestätigung für mich, aber die brau- che ich nicht mehr, weil ich weiß, auf der emotionalen Ebene kann mir niemand diesen Mann wegnehmen. Das hat das eine Jahr Trennung gezeigt. Ich möchte einfach nicht angelogen werden, aber ich frage auch nicht nach. Wenn er in der Lage ist, sich auf ei- nem anderen Weg auszugleichen, kann ich ihm das lassen.

VOLKER

Ab und an gehe ich zu Prostituierten. Das weiß die Steffi bis jetzt nicht. Es ist ja meine Sache, warum ich da hingehe. Wegen dem Drang. Aber erklär das mal einer Frau.

STEFFI

Dann waren da noch die Kinder. Irgendwann sagte die Bianca im Auto zu mir: Du machst aber wieder viel mit dem Papa. Und ich saß auf meinem Fahrersitz und dachte nur: Oh mein Gott, oh mein Gott. Bianca, wäre das schlimm für dich? Bi- anca sagte, dass es für sie okay wäre, wenn wir zusammen sind, aber sie nicht will, dass er bei uns wohnt.

BIANCA

Meine Therapeutin hat immer versucht, dass ich selbstsicherer werde. Eigentlich kann ich das gut, meine Meinung sagen, aber in manchen Situationen versuche ich, mich mit Lügen zu retten, um es den anderen recht zu machen. Dabei kann ich mir mit der Wahrheit auch was Gutes tun. Wenn ich meiner Mama gesagt hätte, er darf bei uns wohnen, wäre das ja eine Stresssituation für mich. Diese Erkenntnis, dass ich selbst besser damit leben kann, nicht zu lügen, hat mich stark werden lassen.
Und dann war da noch etwas, was raus musste: Ich wollte darüber sprechen, dass meine Mama nicht darauf eingegangen ist, als ich ihr das mit meinem Papa erzählt hab. Ich wollte, dass sie mal realistisch darüber nachdenkt, wie es mir die ganze Zeit ging. Ich war froh, dass wir noch das Vierer-Gespräch hatten. Also das Gespräch mit meiner Mama, ihrem Therapeuten, meiner Therapeutin und mir.

STEFFI

Dieses Gespräch war von allem der schmerzvollste Moment. Bianca hat alles rausgelassen. Als wäre ein Knoten geplatzt.

BIANCA

Ich hab ihr ganz böse Sachen an den Kopf geknallt. Dass sie sich nicht genug um mich gekümmert hat. Dass sie keine Ahnung hat von mir. Dass mich alles nervt.

STEFFI

Danach habe ich mit meinem Therapeuten viele Stunden darüber gesprochen, warum ich ihr nicht geglaubt habe. Es ging viel um meine Mutter. Irgend- wann war die Antwort da. Meine Kindheit hat dazu geführt, dass der Wunsch nach heiler Welt, nach Streitfreiheit, nach Kontrolle alles andere übertüncht hat. Ich war mit allen Mitteln darauf bedacht, das Bild unserer Familie aufrecht zu halten, ich wollte gar nicht hinter die Fassade gucken. Das ist mein Fazit aus der Therapie.

BIANCA

Das klingt jetzt böse, aber früher habe ich meine Mama nicht so als eigenständige Person wahrgenommen, sie war zwar immer da, aber sie war nicht meine Bezugsperson. In dem Vierer-Gespräch hatte ich das Gefühl, dass sie es dann verstanden hat. Jetzt ist sie viel offener und für einen da und beschützerisch. Eine Löwenmama.

STEFFI

Für mich sind die Dinge jetzt viel heller und klarer. Und ich stelle meine zwischenmenschlichen Beziehungen viel mehr in Frage.


HEUTE UNGEWISSHEIT

BIANCA

Vor ein paar Wochen hatten wir in der Schule das Thema Poetry Slam, und unser Lehrer hat uns ein Video von Julia Engelmann gezeigt. Es heißt Für meine Eltern. Das wollte ich meiner Mama und meinem Papa zeigen.

VOLKER

Ich hab im ersten Moment gedacht, das ist irgendein Spinnervideo, das gerade im Internet kursiert, und dafür hab ich nichts übrig. Und dadurch, dass ich direkt gemeckert habe, habe ich gar nicht verstanden, was die überhaupt sagt. Die Bianca wurde sauer und hat geweint.

STEFFI

Volker ist manchmal wirklich ein Bauer. Als Bianca in ihr Kinderzimmer rannte, hab ich nur zu ihm gesagt: Wir zwei, zu ihr ins Zimmer, jetzt. Zu Bianca meinte ich: Maus, es tut mir total leid, wir waren richtig doof. Aber jetzt haben wir die Zeit, um uns das anzuhören. Ich hatte den Kopf an ihren gelehnt. Volker saß etwas hilflos neben uns auf dem Bett. Bianca hat seine Hand genommen.

Auszug aus Für meine Eltern:

Ihr seid mein Ursprung, mein Vertrauen, meine Insel und mein Schatz. Mein Mund formt euer Lachen, mein Herz schlägt euern Takt.

STEFFI

Es ist lange nicht selbstverständlich, dass sie uns so was zeigt.

VOLKER

Wir haben alle dagesessen, im Arm, Weinerei und so. Auch ich bin nah am Wasser gebaut. Das Video hat mich traurig gemacht. Weil dieses »Ich liebe dich trotzdem«, das sie mir damit sagen wollte, nur eine Reaktion ist auf das, was ich ihr angetan habe. Es wird immer ein Trotzdem sein. Wie soll man sich das je verzeihen? Wie soll das denn gehen? Irgendwann wird auch so eine kleine Bianca Hass kriegen. Vielleicht in zehn Jahren. Vielleicht aber auch, wenn sie das hier liest.

BIANCA

Ich hab Angst, was meine Mama und mein Papa über das denken, wenn sie lesen, was ich gesagt habe.

STEFFI

Um ehrlich zu sein, hab ich irgendwann sogar überlegt, ob ich das mit dem Artikel abbrechen soll. Dass die Bianca sich lange nicht getraut hat, ehrlich zu sein, sitzt noch fest. Man ist vor keiner Überraschung geschützt. Das, was wir im Moment erreicht haben, ist einfach noch so zerbrechlich. Aber ich will zeigen, dass es noch einen anderen Weg gibt.

VOLKER

Jeder von uns wird wieder etwas über die anderen erfahren, was er noch nicht weiß. Auch ich habe mehr erzählt, als ich wollte. Und entweder sprechen wir dann noch einmal ganz anders über alles, oder es kracht, und ich habe die Fünfzig- fünfzig-Chance, dass die Bianca mich noch weiter in ihrem Leben will.