TROTZKOPF
// Der Spiegel

Andrea Nahles wollte nicht als Frau Politik machen. Aber als Frau hatte sie es besonders schwer, in der Spitzenpolitik zu bestehen. Ein Jahr mit einer Scheiternden


Juli 2018. Andrea Nahles ist auf Sommerreise in Hessen. Ein Dutzend Hauptstadtjournalisten begleitet sie. Alle sitzen hinten im Bus, auch Nahles. Sie hat gute Laune, kommt gerade aus Sardinien, wo sie mit ihrer Tochter Ella Urlaub gemacht hat. Der erste, seit sie vor drei Monaten Parteivorsitzende wurde. Es wird gelacht, gelästert, geurteilt. Dann tritt ihr Pressesprecher dazu. Für das Abendessen gebe es mehrere Menüs zur Auswahl, sagt er, jeder solle wählen zwischen Rind, Schnitzel und Pasta. Also, wer möchte Rind?

Nahles hebt die Hand, und sofort melden sich auch alle Journalisten, mit Ausnahme zweier Vegetarier. Der Pressesprecher will sich umdrehen und nach vorn gehen, da entscheidet sich Nahles um, will doch das Schnitzel. Und wie kleine Kinder, die die Erlaubnis ihrer Mutter bekommen haben, wechselt einer nach dem anderen zum Schnitzel. Allen ist die Komik des Moments bewusst, einer sagt: »Da ist sie, die Macht.«

»Läuft es im Willy-Brandt-Haus auch schon so?«, fragt ein Journalist. Nahles lächelt spitzbübisch. Sie sagt: »Bald.« Und lacht.

Als Nahles am vergangenen Sonntag ankündigt, nicht nur ihre Ämter aufzugeben, sondern auch ihr Bundestagsmandat niederzulegen, als diese Frau, die seit 30 Jahren die Geschichte der Sozialdemokratie mitprägt, ihr mit voller Konsequenz den Rücken zudreht, erinnere ich mich an diesen Tag im vergangenen Sommer. Es war der erste, den ich mit ihr verbrachte, und es blieb der hoffnungsvollste. Es war der Tag, an dem aufschien, wie eine Parteichefin Andrea Nahles hätte sein können, wäre nur irgendjemand dafür bereit gewesen. Wäre sie dafür bereit gewesen.

Abends sitzt Nahles' kleine Reisegruppe an einer langen Tafel, vielleicht 15 Personen. Teure Weine, Fisch-Carpaccio, dann Rind, Schnitzel oder Pasta. Nahles in der Mitte, entspannt auf ihrem Stuhl zurückgelehnt, breitbeinig, die Augen wach. Über viele Stunden wird ihr eine Frage nach der nächsten gestellt. Es geht um einzelne Politiker, um die SPD, die Regierung, das Land, die Welt und um sie. Und Nahles blüht auf. Dieses Auf-Zuruf-präsent-Sein liegt ihr. Sie ist schnell im Denken und eiskalt im Urteil. Sie bringt alle zum Lachen. Und während sie da so sitzt wie ein Mafiaboss, sieht man ihr an, an diesem frechen Lächeln, wie sie es genießt, zeigen zu können, wie klug, wie bedeutend sie ist.

»Sie müssen sie erleben. Sie wird ganz anders sein, als Sie sich das vorstellen«, hatte mir ihre Sprecherin bei einem Vorgespräch zu diesem Porträt gesagt.

Und tatsächlich, am Ende des Abends steht Nahles draußen vor dem Hotel und diskutiert mit einer Gruppe Mechaniker hitzig darüber, wer denn nun den geilsten Sportwagen baut, Porsche, Mercedes oder Audi, und alle fühlen sich wohl, sie mit den Mechanikern, die Mechaniker mit ihr.

Schon am nächsten Morgen, als sie wieder vor einer Schar Mikrofone steht, ist all die Leichtigkeit vom Abend verschwunden. Sobald ihr eine Frage gestellt wird, kneift Nahles die Augen zusammen und schaut angestrengt in die Ferne, als stünde dort, auf 50 Meter Entfernung, ein Teleprompter, der ihr eine Antwort verraten könnte. Ihr Lächeln ist wie eingefroren, die Tonlage ernst. Manchmal, wenn eine Frage besonders provokativ ist, blitzt für einen Moment die Nahles vom Abend zuvor durch, die Augen wach, bereit zu parieren. Aber sofort zwingt sie sich wieder, ernst zu werden, bloß nicht impulsiv zu antworten.

Warum sie sich selbst zensiert in solchen Momenten? Weil alles andere naiv sei. »Die Menschen sagen, sie wollen authentische Politiker, aber Ecken und Kanten wollen sie nicht wirklich«, sagt Nahles bei einer anderen Gelegenheit und meint damit vor allem: Sie wollen keine authentische Frau.

Nun ist sie gescheitert, nach nur 13 Monaten. Ich habe Andrea Nahles in dieser Zeit häufig bei Terminen begleitet, habe sie zweimal zum Gespräch getroffen. Es sollte eine Geschichte darüber werden, wie sich die erste Frau an der Spitze der SPD schlägt. Das weiß inzwischen jeder. Bleibt die Frage, warum sie so schnell gescheitert ist.

Nahles hat die Erzählung über sich immer schlicht gehalten. Tochter eines Maurermeisters, Katholikin, früh SPD-Mitglied, früh Gründung eines Ortsvereins, Germanistikstudium, früh hoch in der Politik, heute alleinerziehende Mutter. Selbst in ihrer Autobiografie »Frau, gläubig, links« gibt es kaum mehr über ihre Ursprünge zu erfahren als ein, zwei schon tausendmal wiederholte Anekdoten aus ihrer Jugend.

Sie war noch ein Kind, vielleicht acht, neun Jahre alt, als sie das erste Mal bemerkte, dass es einen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen gibt. Sie war das einzige Mädchen in ihrer Clique und empfand ihr Geschlecht als Hindernis. Die feinen Sandalen, die Röcke, all diese Restriktionen, die es für Mädchen beim Spielen gab, wollte sie nicht haben. Sie wollte frei sein und gleich und spielen dürfen wie die Jungs. Also schaffte sie die Restriktionen einfach ab. Die ganze Gruppe bekam neue Namen von ihr, Jungsnamen. Problem gelöst.

Später fiel ihr auf, dass die Mütter ihrer Klassenkameraden nicht arbeiteten so wie ihre. Auf die Frage, ob ihre Mutter stolz darauf gewesen sei, gearbeitet zu haben, lacht sie sich schlapp. »Auf so einer Ebene wurde bei uns nicht diskutiert. Das ist so eine Metaebene.«

Mit 13 Jahren fing sie an, darüber nachzudenken, was eigentlich ihr Auftrag, was ihre Berufung sein könnte. »Ich bin nicht jemand, der eine Fülle an genialen Talenten hat. Aber ich konnte immer sehr gut Gruppen organisieren. Ich konnte immer erreichen, dass aus einer Vielzahl von Stimmen am Ende eine Botschaft wird«, sagt Nahles.

Erst als sie 18 war, nach einem monatelangen Krankenhausaufenthalt wegen verschiedener Hüftoperationen, fing sie an, sich politisch zu engagieren. Sie wollte einen SPD-Ortsverein gründen, ihre Eltern waren dagegen, sie befürchteten, dass Unruhe im Dorf ausbrechen würde. Als Nahles eines Tages nach Hause kam, waren ihre Möbel nicht mehr da. Ihre Mutter hatte all ihre Sachen in den Rohbau gebracht, der irgendwann mal das Zuhause der Familie werden sollte.

»Meine Mutter dachte, dass ich dann aufgeben würde, aber da hat sie sich verkalkuliert. Ich wurde nur noch bockiger.« Zwei Jahre hauste sie in dem Rohbau. Ihr Vater sorgte dafür, dass die Heizung funktionierte. Den Ortsverein gründete sie trotzdem.

Als Nahles Anfang Februar 2019 die Evangelische Studierendengemeinde Mainz besucht, wird sie gefragt, ob die Verknüpfung ihres politischen Engagements mit ihrem Glauben auch Nachteile habe.

»Ja, weil ich versuche, durch mein Christsein immer offen zu bleiben und nicht zuzumachen. Es ist sehr viel schwieriger, nicht verletzt zu werden, wenn man versucht, immer einen Kanal offen zu halten. Viele, die so lange wie ich in der Politik sind, haben zugemacht. Manche sind zynisch geworden. Und dieser Zynismus, der auch in Berlin viel häufiger anzutreffen ist als hier in Mainz oder bei mir in der Eifel, das ist etwas, das ich sehr, sehr verachte. Und deswegen ist Christsein keinesfalls, wenn man es ernst nimmt, etwas, das einen vor Kritik oder der Wucht der Kritik schützt, sondern im Gegenteil, manchmal setzt es mich der Kritik ungeschützt aus.«

Was Politiker an Angriffen gegen ihre Person, was an Häme, was an Kritik, was an Beleidigungen ertragen müssen, ist enorm.

Was Frauen in der Politik aushalten müssen, ist schlimmer. Zu dem, was auch die Männer aushalten müssen, addieren sich die permanente Beäugung ihres Äußeren und die Auseinandersetzung mit all den Erwartungen, die bewusst oder unbewusst noch immer an Frauen gestellt werden.

Nahles hat es noch schwerer. Sie nimmt sich nicht nur die Macht, sondern stellt die Männer auch bloß. Sie hat einst die Abwahl des Parteivorsitzenden Rudolf Scharping bejubelt, sie hat den Parteivorsitzenden Franz Müntefering gedemütigt. Sie ist nicht dankbar dafür, dass sie oben stehen darf, sie findet das selbstverständlich. Und an eine Frau ohne Demut wollen sich viele Männer nicht gewöhnen. Sie schämen sich gern für ihr Verhalten, ihre deftigen Worte, ihre auffälligen Auftritte. Fremdschämen.

Bei Nahles schien es, als würden alle nur noch darauf warten, sich wieder für sie schämen zu können. Als sie nach ihrer letzten Kabinettssitzung als Arbeitsministerin im September 2017 gefragt wird, wie sich diese angefühlt habe, sagt sie: »Ein bisschen wehmütig – und ab morgen kriegen sie in die Fresse.« Das war ein Witz. Sie lacht, während sie diese Worte sagt, trotzdem wird dieser Auftritt behandelt, als habe sie jemandem Gewalt angedroht.

Ähnlich läuft es in diesem Jahr, als sie beim politischen Aschermittwoch in Suhl auf der Bühne steht. Sie wird vom Moderator zum Singen gedrängt und lacht sich die ganze Zeit kaputt, weil alles so peinlich ist, was sie auf der Bühne tun muss. Hinterher beginnt der große Lärm.

Scham ist etwas Tückisches. Nahles' Gegner innerhalb der SPD lieben jede Gelegenheit, ihr Fremdschämen zu erwähnen, weil es so zerstörerisch ist. Man darf fies, böse, manipulativ, dumm, unsolidarisch sein und wird trotzdem gewählt. Aber niemand ergreift für jemanden Partei, für den andere sich schämen.

Nahles hat gelernt, Angriffe auf ihre Person subtil zu parieren. Ein Beispiel: Wenn sie in einer Talkshow oder auf einer Podiumsdiskussion von Männern belehrt wird, lehnt sie sich zu einem ihrer Sitznachbarn rüber und fängt an, ihm etwas zuzuflüstern. Sofort hören die Zuschauer auf, dem Mann zuzuhören, und rätseln lieber darüber, was Nahles da wohl geflüstert hat.

Willy-Brandt-Haus, Anfang November, Nahles fährt mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage und hat schlechte Laune. Sie ist spät dran, hat Angst, den Flug zu verpassen, und findet ihre Tasche nicht. Katarina Barley habe den besseren Parkplatz, obwohl sie seltener da sei. Noch so ein Ärgernis. Nahles' Mitarbeiter fürchten die Launen ihrer Chefin, oft reicht ein Anruf ihrer Tochter Ella, und sie ist überglücklich oder zu Tode betrübt.

Auf der Fahrt erzählt sie, wie das war, als sie 1995 Juso-Bundesvorsitzende wurde und von einem Tag auf den anderen mit den Kommentaren der bundesweiten Presse umgehen musste. »Ich kam aus Rheinland-Pfalz, da gab es nur drei Medien, und die waren alle okay. Auf Bundesebene habe ich dann 20 Interviews an einem Tag gegeben, und als ich dann angefangen habe, die ersten Porträts zu lesen, da hab ich mich gefragt: In was bist du jetzt hier reingeraten?« Sie bekam eine Magenentzündung, die zwei Jahre blieb.

Mittlerweile hat sie einen Dreischritt entwickelt. Phase eins ist das Abblocken, die Kritik einfach ignorieren. Hört sie nicht auf, beginnt Phase zwei: Selbstzweifel. Was hast du da wieder getan? In Phase drei kommt der Trotz. Dann ist sie eigentlich schon drüber hinweg.

Doch Trotz birgt auch Gefahr. Sie hat sich längst in ihm eingerichtet. Da sie sich als ewig Missverstandene sieht, bleibt sie in der Defensive, wartet darauf, akzeptiert zu werden, anstatt Gegner für sich zu gewinnen. Vor allem aber übersieht sie Chancen.

Sie beklagt sich darüber, die Medien hätten nicht genug thematisiert, dass sie zur ersten weiblichen Parteivorsitzenden der SPD gewählt wurde. Dabei wäre es ihre Aufgabe gewesen, das in der Presse zu platzieren.

Ich hatte oft das Gefühl, sie zu stören, ihr nicht geheuer zu sein. Sie guckte skeptisch, wenn sie mich wieder im Hintergrund bei einer Veranstaltung entdeckte. »Schon wieder hier?« Manchmal sagte sie bei Terminen, sie könne jetzt nicht auf die Frage antworten, da Journalisten anwesend seien, und die würden so etwas gern aus dem Kontext reißen.

Die Limousine ist mittlerweile am Flughafen angekommen, da fällt Nahles ein, dass es doch etwas gab, was ihr geholfen hat, mit der Kritik umzugehen. »Ich war Teil eines Frauenklubs am Anfang meiner Karriere. Mit denen zu reden hat mir damals sehr geholfen«, sagt sie. Dann muss sie los.

Es war Anfang der Neunzigerjahre, als sich in Rheinland-Pfalz ein Netzwerk aus sechs bis acht jungen Frauen bildete, alle Anfang bis Mitte zwanzig, alle selbstbewusst, eloquent, links-progressiv. Frauen, die nur darauf warteten, die männerdominierten Jusos zu erobern.

Ihre Zentrale war die Küche des SPD-Unterbezirksbüros von Koblenz. Hier trafen sie sich, schmiedeten Pläne, dachten die Welt neu.

Untereinander waren sie absolut solidarisch. Fuhren sie gemeinsam zu einem Termin, war klar, dass sie sich nicht in den Rücken fallen würden, selbst wenn sie unterschiedlicher Meinung waren. Sprach eine von ihnen, setzten sich die anderen in die erste Reihe. Wollte eine einen Antrag durchbringen, ließen sich die anderen auf die Redeliste setzen, um sie zu unterstützen. Und wenn eine scheiterte, dann waren sie füreinander da.

Unter den Frauen war schnell klar, wer von ihnen die politisch herausragenden waren: Kristina Augst, die später die Politik verlässt und als Theologin arbeitet, und Andrea Nahles. Und so wurden die beiden auch zum Projekt der anderen.

»Andrea ist eine Menschenfischerin«, sagt Birgit Strack, die damals Teil der Gruppe war und heute ein Seniorenheim in Düren leitet. »Wissen Sie, ich bin politisch aktiv und mache gute Arbeit, aber ich bin jemand für die Kreisklasse. Andrea ist politisch brillant. Sie nimmt einen Raum ein. Wo sie auch hinkam, es hat sich eine Traube um sie gebildet. Sie hatte dieses unglaubliche Talent, Dinge möglich zu machen. Eine ungeheure Netzwerkerin. Sie besaß so ein kleines Notizbuch, da waren Hunderte von Nummern drin.«

Strack erzählt, dass das Ziel der Gruppe immer war, das System zu verändern. Sie wollten keine Frauen sein, die in eine männliche Welt passten. Sie wollten eine geschlechtergerechte Welt.

Strack erklärt anhand der quotierten Redeliste, was sie meint. Wenn bei Juso-Bundeskongressen ein Tagesordnungspunkt aufgerufen wurde, standen innerhalb von Minuten 30 Männer auf der Redeliste. Warum keine Frauen? Sie analysierten, dass Männer sich prophylaktisch melden, weil sie vorkommen wollen. Frauen hingegen neigen dazu, sich erst dann in eine Debatte einzuschalten, wenn sie das Gefühl haben, zu einem bestimmten Punkt wirklich etwas sagen zu können. So landeten sie auf Platz 30 bis 50 der Rednerliste und kamen nicht dran. Als sie das ansprachen, antworteten die Männer: Meldet euch doch einfach früher. Das wäre eine Anpassung an die Männerwelt gewesen. Also kamen die Frauen auf die Idee, die Rednerliste zu quotieren. Es wurden fortan zwei getrennte Listen geführt, eine für die Männer, eine für die Frauen, und beide wurden abwechselnd aufgerufen.

Die intensivste Phase der Frauengruppe endet, als Nahles 1995 zur Juso-Vorsitzenden gewählt wird. Danach machen die anderen ihre Abschlüsse, ziehen weg. Sie beobachten Nahles' Karriere von Weitem, sorgen sich manchmal um das Wohl ihrer Freundin. Aber je höher Nahles kommt, desto seltener können sich die Freundinnen sehen. Strack schickt ihr Postkarten, kleine Aufmerksamkeiten, bei denen Nahles sich nicht verpflichtet fühlen soll zu antworten; sie soll ab und zu mal merken, dass jemand sieht, was sie leistet.

Als Nahles Parteichefin wird, findet sie eine, wie sie sagt, »vertrocknete« SPD vor. Sie muss Leidenschaft zurückholen, den Mitgliedern wieder Gemeinschaft geben, sie fordern und träumen lassen. Deshalb entwickelt sie ein Debattencamp, das ein bisschen an das Frauenwochenende erinnert, das Nahles damals in ihrem Rohbau in Weiler machte. »Gemeinsam wurden Papiere geschrieben, Anträge entwickelt, Strategien entwickelt, die Welt neu erfunden«, erinnert sich Strack.

So ähnlich gestaltet Nahles das Debattencamp im November in der Industriehalle am Rand von Berlin, und zumindest für diese zwei Tage funktioniert es. Unter den Anwesenden herrscht Euphorie. Kurz darauf fordert wieder jemand Nahles' Rücktritt, da ist die Euphorie vergessen.

In vielen politischen Nachrufen diese Woche stand, Nahles hätte für ein veraltetes Politikmodell gestanden, eines der Klüngelei im Hinterzimmer.

Ihr Politikmodell ist alt, das stimmt. Sie sagt, sie habe sich mit 25 überlegt, wie sie führen wolle, und sei dann immer dabei geblieben. Sie spricht oft von der »Kraft des kommunikativen Handelns«, eine Idee, die der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas entwickelt hat. »Es ist eine Entscheidung zum Teamwork und zum Vertrauen in die Kommunikation«, sagt Nahles. Sie meint damit, dass sie Inhalte finden will, die alle als die ihren verkaufen können. Kompromisse also. Das neue Sozialstaatskonzept ist ein Produkt dieser Art, die SPD verabschiedet sich damit von Hartz IV und will den Mindestlohn anheben. Am Ende können sich alle dahinterstellen. Selbst Kevin Kühnert ist glücklich. Nahles hat einen Konsens geschaffen, der bleibt.

Es kehrt Ruhe ein. Der Freude folgt keine Aufbruchstimmung. Die Genossen verstehen nicht, dass es nun ihre Aufgabe wäre, die Bevölkerung für das neue Konzept zu begeistern. Es ist, als würde die Partei nach dem Schulz-Hype vor zwei Jahren nicht mehr auf Inhalte warten, sondern nur noch auf Wunder. Und Nahles versäumt es, die Genossen zu einer Kampagne zu motivieren. Deshalb wird sie nicht nur an den gut getimten Angriffen ihrer rachsüchtigen Vorgänger scheitern, sondern auch an ihrem Unvermögen, die Partei mitzuziehen.

Ende März. Nahles sitzt in einem Konferenzraum im dritten Stock des Bundestags. Im Hintergrund ertönt in Intervallen eine Klingel, die auf anstehende Abstimmungen hinweist. Zweimal springt Nahles während des Gesprächs auf und sprintet kurz runter.

Hat sie sich in diesem Jahr als Parteivorsitzende verändert?

»Ja.«

Wie?

»Das weiß ich noch nicht.«

Gibt es Symptome?

»Die Last der Gesamtverantwortung verändert einen schon, dieses Gefühl, du musst immer das Beste aus dir rausholen. Das ist ein extremer Druck. Du fühlst dich auf dich selbst zurückgeworfen, hast das Gefühl, du wirst jetzt auf den Kern dessen geführt, was du bist. Da ist kein Schutz, kein Puffer mehr. Nichts. Dieses völlige Ausgeliefertsein allem gegenüber, der Kritik, der Öffentlichkeit, den eigenen Stärken und Schwächen, das ist krass. Aber ich sehe nicht nur mich anders. Ich sehe auch meine Partei anders.«

Wie?

Sie sagt sofort, dass sie das nicht kommentieren wolle. Es ist ihr ernster, nachdrücklicher Blick, der die Enttäuschung verrät.

Aus ihrem Umfeld heißt es, nach der Fraktionssitzung vergangene Woche sei sie trotz der vielen Kritik noch zuversichtlich gewesen. Sie verbringt die nächsten Tage am Telefon, ruft viele Fraktionsmitglieder persönlich an, redet mit ihnen, und bis zuletzt geht sie davon aus, dass sie die Wahl gewinnen könnte.

Sie tritt zurück, als ihr klar wird, dass ihre Gegner in der Fraktion auch nach einer Wahl nicht aufhören werden, sie zu attackieren. Ihre Strategie zur Erneuerung der SPD kann aber ohne Solidarität ihrer Genossen nicht aufgehen, und was bringt ihr dann die Macht?